(A)

Alles war für die Abreise bereit. Die Söhne des Joseph waren schon vor einigen Wochen wieder hinauf nach Jerusalem gezogen, um ihre Arbeiten am Tempel des HERRN fortzusetzen. Sie sollten dort jedem, der nach ihrem Vater fragen würde, erklären, Joseph hätte sich aus Altersgründen zur Ruhe gesetzt und hätte sie darum nicht mehr begleitet.

Allein Zacharias kannte die wahren Gründe; aber Gott hatte es ja schließlich so gefügt, dass ausgerechnet dieser mit der Aufsicht über die Erweiterungsarbeiten am Heiligtum Gottes betraut worden war. So bestand eigentlich keine Gefahr, dass irgendjemand Verdacht schöpfen konnte, dass Maria als eine Geweihte Gottes sich in anderen Umständen befand, obwohl sie doch durch das Gelübde ihrer Eltern zu lebenslanger Keuschheit verpflichtet worden war.

Alles, was Joseph und die ihm anvertraute Maria an Nötigstem mit sich nach Bethlehem nehmen wollten, war bereits in zwei großen Säcken verstaut, und die letzten Stunden waren genutzt worden, um von allen Abschied zu nehmen.

Heute nacht sollte es los gehen: Dann wollten sie im Schutz der Dunkelheit abreisen, wenn ganz Nazareth sich niedergelegt haben würde. Denn Maria war bereits im achten Monat, so dass es mittlerweile freilich, selbst aus der Ferne, unverkennbar war, dass sie ein Kind im Leibe trug. Denn ihre Niederkunft war in den nächsten Wochen zu erwarten. So galt es nun nur noch, den Einbruch der Nacht abzuwarten; und die Abenddämmerung zog bereits herauf.

Da klopfte es mit einem Mal an der Tür. Joseph gab Maria einen Wink, dass sie sich schnell in ihr Gemach zurück ziehen sollte; und eine seiner Schwiegertöchter öffnete die Tür. Und siehe: Da stand der junge, aufstrebende Schriftgelehrte Hannas, welcher trotz seines erst mittleren Alters bereits ein Mitglied des Hohen Rates war, zusammen mit zwei Tempel-Wachen vor dem Haus.

Und als Joseph ihn sah, stockte ihm der Atem; denn er kannte den Hannas wohl von seinen Bauten am Tempel Gottes her und wusste sofort, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn jener vom Sanhedrin – noch dazu in solcher Begleitung – ins ferne Galiläa ausgerechnet zu ihm geschickt worden war. Hoffentlich hatte nur niemand in Nazareth etwas von jenem … „hohen Besuch“ aus Jerusalem mitbekommen! Denn solch eine „Observation“ ließ immer Böses erwarten.

(B)

Und genau so war es auch: Hannas nämlich wollte dem Zacharias schaden, da Hannas es dem Zacharias neidete, dass dieser an seiner statt von Simon Ben Boethos, dem Hohenpriester, zu dessen Stellvertreter mit der Aufsicht über die Bauarbeiten am Tempel des HERRN ernannt worden war. Und nachdem dem Zacharias in seinem Alter durch ein Wunder Gottes nun auch noch ein Sohn geschenkt worden war, was ganz Israel aufmerken und auf Großes hoffen ließ, stand nunmehr Gefahr in Verzug, dass am Ende das höchste geistliche Amt des Hohenpriesters selbst noch einstmals an das Haus der Zacharias kommen könnte.

Zacharias nämlich hatte sich durch seine geschickte Leitung des Ausbaus am Heiligtum Gottes auch schon bei Herodes dem Großen viel Gunst erworben, so dass die Befürchtung durchaus nicht unbegründet war, dass jener idumäische Herrscher Israels einstmals den Zacharias selbst noch zum Hohenpriester ernennen könnte, da jener edomitische Regent von Roms Gnaden, der schon das ganze königliche Hohepriester-Geschlecht der Hasmonäer ausgerottet hatte, auch allen Sadduzäern, die durch die Makkabäer zu Macht und Einfluss gekommen waren, feindlich gesonnen war.

Zacharias aber war von Herzen demütig und in keinster Weise auf irgendwelche Herrschaft aus, sondern wollte vielmehr in aller Bescheidenheit nur Gott und Seinem Volk als ein rein geistlicher Mittler dienen, ohne darüber in irgendwelche weltlichen Geschäftigkeiten verstrickt zu sein, weswegen er auch als einstmaliger Hoherpriester für Herodes keine Gefahr dargestellt hätte.

Als nun aber im Haus des Zacharias anlässlich der Beschneidung seines Sohnes, welche der Hohepriester Simon persönlich vorgenommen hatte, ein großes Fest stattfand, fiel dem Hannas auf, dass Maria, die Nichte der Elisabeth, welche in ihrem Alter noch jenen Johanan empfangen hatte, unmittelbar nach der Niederkunft ihrer Tante überstürzt wieder abgereist war, ohne das Fest der Beschneidung noch abzuwarten, um ihm beizuwohnen und mit-zu-feiern.

Dem Hannas nämlich war es zu Ohren gekommen, dass Samuel, welcher den Tempel-Aufseher Zacharias vertreten hatte, solange dieser seine Stimme verloren hatte, nach einem Besuch bei ihm, um Erkundigung über den Fortgang der Bauarbeiten einzuholen, die Wirk-Arbeiten von Zacharias Frau, sowie von Maria, ihrer Nichte, mit nach Jerusalem zurück gebracht hatte. So war Hannas von dem Tempeldienern, die den Garn auf einem Karren in die Heilige Stadt gebracht hatten, unterrichtet worden, dass Maria ganze drei Monate bei ihrer Tante verweilt hatte, um Elisabeth in der Zeit ihrer Schwangerschaft zur Hand zu gehen.

Da war es freilich höchst verwunderlich, geradezu verdächtig, dass Maria nicht noch zum Fest der Beschneidung ihres frisch-geborenen Vetters geblieben war, und Hannas schloss mit dem Scharfsinn eines Spürhundes sofort daraus, dass man hier etwas zu verbergen suchte – nämlich, dass ganz offensichtlich jene zur Keuschheit verpflichtete Jungfrau selbst auch ein Kind erwartete, obwohl sie doch schon als kleines Mädchen dem HERRN geweiht worden und in den Tempel des HERRN gegeben worden war und vor drei Jahren, als sie in ihre Tage kam, gleich einer Verlobten dem Witwer Joseph anvertraut worden war, dass er sie jungfräulich behüten und über ihre Unschuld wachen sollte.

Nun verhielt es sich aber so, dass jenes Mädchen seiner Zeit, als sie noch im Tempel des HERRN geduldet wurde, in schon bedenklicher Weise die Aufmerksamkeit allen Volkes auf sich zog und man sie für eine ganz besonders erwählte, geheiligte Jungfrau des HERRN hielt, da sie schon als Kleinkind voll Anmut von himmlischen Gesängen, die sie zu hören wähnte, im Heiligtum Gottes getanzt hatte und auch Gerüchte kursierten, sie solle sogar Umgang mit Engeln haben und von diesen verköstigt werden, weswegen man sie schließlich auch aus dem Haus des HERRN entfernt hatte.

Jene Maria aber war die Nichte des Zacharias, welcher wiederum die rechte Hand des Hohenpriesters war. Und als jenem nun auch noch in seinem hohen Alter durch ein Wunder des HERRN ein Knäblein geschenkt wurde, wie einstmals dem Erzvater Abraham, verbreitete sich dies freilich auch wie ein Lauffeuer in der gesamten Heiligen Stadt und darüber hinaus im ganz Umland, dass alle sich fragten: „Was wird wohl aus diesem Sohn des Zacharias noch werden, da völlig offensichtlich auf dem Priester Zacharias und allen seinen Anverwandten ein ganz besonderer göttlicher Segen liegen muss?!“

Darum bestand nun wahrhaftig große Gefahr, dass Zacharias, der wegen seiner Geschicklichkeit in der Koordination der Bauarbeiten am Tempel des HERRN mit dem Dienst am Heiligtum selbst auch schon bei Herodes dem Großen viel Gunst gewonnen hatte, von diesem heidnischen Regenten über Israel einmal selbst noch zum Hohenpriester ernannt werden könnte, und, dass alsdann diese hohepriesterliche Würde und damit die geistliche Herrschaft über das ganze jüdische Volk überdies einstmals an seinen Sohn übergehen könnte, der schon vor seiner Geburt von sich reden machte und seinerseits vielleicht auch noch viele Nachkommen in die Welt setzen würde, so dass jenes höchste geistliche Wächter-Amt am Ende schließlich noch ganz an das Haus des demütigen Zachäus hätte gebunden werden können, da dieser für den heidnischen Herrscher von Roms Gnaden noch die geringste Gefährdung von dessen Machtposition dargestellt hätte.

Das hätte freilich alle Pläne des ehrgeizigen, aufstrebenden, jungen Schriftgelehrten Hannas zerschlagen, der von je her kein anderes Ziel verfolgte, als dieses höchste geistliche Amt einstmals an sich zu bringen und an sein Haus zu binden; denn allein dafür hatte er auch viele Söhne gezeugt.

(C)

Sollte nun Maria tatsächlich ihr Keuschheitsgelübde gebrochen haben und in Unzucht gefallen sein, so hätte das freilich auch dem Ruf des Zacharias nachhaltig beschädigt, da er doch ihr Onkel war und, von ihr verzückt, über ihr geweissagt hatte, dass der HERR noch Großes an ihr zu tun gedächte.

Darum hatte Hannas sich an den Hohenpriester Boethos gewandt, und unter der Vorgabe geheuchelter „Sorge“ seinen Verdacht geäußert, jenes geweihte Mädchen Maria, welches die Nichte des Zacharias war, könnte der Hurerei verfallen sein. Als Simon Ben Boethos dies von Hannas eröffnet worden war, war diesem selbstverständlich sofort klar, was Hannas im Schilde führte, dass er damit letztendlich allein nur den guten Ruf des Zacharias schädigen wollte.

Und dem Hohepriester Boethos war freilich ebenso durchaus bewusst, dass er in Hannas einen gefährlichen Konkurrenten hatte, der auch ihm selbst die geistliche Oberhoheit neidete und gegen ihn rivalisierte, weswegen Simon Ben Boethos seiner Zeit auch den Zacharias, der in seiner tiefen Frömmigkeit nicht auf Amt und Würden aus war, anstelle des Schriftgelehrten Hannas zu seinem Stellvertreter ernannt hatte.

Trotz alledem sah mittlerweile auch der Boethos in Zacharias eine zunehmende Gefährdung seiner eigenen Machtposition und war darum bereit, in dieser Angelegenheit gemeinsame Sache mit seinem Rivalen Hannas zu machen, um den Ruf des Zacharias in Mitleidenschaft zu ziehen.

Darum hatte es der Hohepriester dem Hannas genehmigt, bezüglich Maria Erkundigungen einzuholen; und als die von Hannas entsandten Kundschafter nach Jerusalem zurück kamen, bestätigten sie, dass Maria aufgrund einer angeblichen Erkrankung das Haus ihres Anverlobten nicht mehr verlassen hatte, seit sie von ihrem Onkel Zacharias nach Nazareth zurück gekehrt war; und dass man überdies aber bislang auch nicht nach dem Rabbi und den Ältesten verlangt hatte, dass sie über dem geschwächten Mädchen beten sollten.

Da nun über allem Joseph selbst, der mit der Errichtung von Holz-Gerüsten für die Erweiterungsarbeiten an der Tempelmauer betraut worden war, nicht mehr mit seinen Söhnen heraufgezogen war, als die Arbeiten mit dem nächsten Bau-Abschnitt am Heiligtum Gottes wieder aufgenommen werden sollten, schien sich der Verdacht erhärtet zu haben, dass die „ach so heilige“ Nichte des „ach so heiligen“ Zacharias wohl eines groben Vergehens schuldig geworden war, das schier einem Ehebruch gleichkam, worauf schließlich sogar die Todesstrafe stand, da jene Geweihte Gottes dem Joseph doch schließlich gleich einer An-Verlobten anvertraut worden war, dass er über ihre Unversehrtheit wachen sollte.

So ließ sich nunmehr offensichtlich ganz augenscheinlich aufdecken, wie es um die vermeintlich alle in den Schatten stellende, geheuchelte Demut des Zacharias in Wahrheit bestellt war, der es anscheinend in unüberbietbarer Durchtriebenheit – sogar unter Berufung auf angebliche himmlische Erscheinungen im Tempel Gottes selbst! – verstand, das Produkt seiner selbst in seinen vorgerückten Tagen noch nicht erlahmten Lüsternheit als ein großes Wunder Gottes darzustellen, dass er aufgrund seiner „ach so großen Heiligkeit“ trotz seines hohen Alters noch ein „ach so heiliges“ Kind geschenkt bekommen hätte, das wohl am Ende gar noch der Messias selbst sein sollte: der letzte und größte königliche Hohepriester Gottes selbst, den Maria, die „ach so heilige Nichte“ des Zacharias, als eine vermeintliche Prophetin des HERRN, am Ende wohl einstmals auch noch in seiner göttlichen Sendung bestätigen sollte!

Darum hatte es der Hohepriester dem Schriftgelehrten Hannas bewilligt, die Sache nunmehr höchstpersönlich zu erkunden und den Joseph eingehend zu befragen, sowie, wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, dass die Geweihte Gottes schwanger war, ihn und Maria vor den Hohen Rat zu führen, dass sie sich dort vor der höchsten Gerichtsbarkeit des Sanhedrins verantworten sollten.

(D)

Hannas trat mit geheucheltem Segen auf den Lippen mit seinen beiden Begleitern ein: „Friede sei mit diesem Haus von Gott, dem Allmächtigen! Gepriesen sei sein Name!“

„Friede auch mit dir, ehrenwerter Hannas!“, erwiderte Joseph argwöhnisch den frommen Gruß. „Doch sage mir: Was verschafft mir die große Ehre, dass du deine gewiss überaus wichtigen Amtsgeschäfte eingestellt hast, um mich hier höchstselbst im fernen Galiläa aufzusuchen?“

„Sorge, mein lieber Joseph! Große Sorge! Du weißt ja gar nicht, wie viel Hochschätzung du dir beim ganzen Hohen Rat Israels durch deine unentbehrlichen Dienste am Ausbau des Heiligen Tempels erworben hast! Darum hat unser Hoherpriester – gesegnet sei sein Name! – keinen Geringeren als mich schicken wollen, um persönlich in Erfahrung zu bringen, wie es dir geht.

Denn wir alle mussten mit großer Bestürzung feststellen, dass du bei der letzten Versammlung zur Besprechung des nächsten Bau-Abschnitts am Heiligtum Gottes gefehlt hast, und hören, dass du ganz unvermittelt von der Last deiner Jahre heimgesucht worden bist, wo du dich doch noch vor wenigen Wochen bis zuletzt zäh und unerbitterlich, selbstvergessen und geradezu verbissen, kraftstrotzend hinein gegeben hast, um deinen würdigen Beitrag an der Verherrlichung des Heiligtums Gottes noch zu vollenden!

Und ebenso haben wir mit großer Kümmernis hören müssen, dass es gleichfalls auch der dir anvertrauten keuschen Jungfrau, die schon vor ihrer Geburt dem HERRN geweiht worden ist und zu unser aller Ehre mitten unter uns im Tempel des HERRN aufwachsen durfte, schon seit einigen Monaten so schlecht gehen soll, dass sie nicht einmal mehr an den Sabbaten des HERRN die Synagoge aufsuchen kann, um Gott, dem Höchsten, die Ehre zu geben! Da musst du schon verstehen, dass wir alle um dich, wie auch um die dir anvertraute Geweihte des HERRN in allergrößter Sorge sind!“

Joseph, dem freilich sofort völlig klar war, dass dies nur ein Kontroll-Besuch sein konnte, da man Verdacht geschöpft hatte, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und sich ebenso unschuldig und unbedarft zu geben, wie jener Schriftgelehrte, der mit seinen gedeichselten Worten gewandt sein Verhör einzuleiten suchte: „Oh, welche Ehre! Richte dem Hohen Rat doch meinen ergebensten Dank aus! Es ist über die Maßen erfreulich, zu hören, dass man sich höchst verdient gemacht hat, wenn die Kräfte nachlassen, so dass man doch einsehen muss, dass die Zeit gekommen ist, Platz zu machen und den Jungen das Feld zu überlassen.

Aber sei versichert: Mein erstgeborener Sohn Jakobus, im Schreiner-Handwerk von mir selbst ausgebildet, wie alle meine Söhne, ist in allem bestens bewandert, so dass er ein höchst würdiger Nachfolger ist und ich wahrhaftig nicht Sorge tragen muss, eine klaffende Lücke zu hinterlassen.

Mich wundert,“ diese spitze Bemerkung konnte sich Joseph dann aber doch nicht verkneifen, „dass euch da mein Fernbleiben überhaupt aufgefallen ist! Doch für mich ist einfach die Zeit gekommen, mich auszuruhen und, ja: mich auch allmählich auf meine letzte große Reise vorzubereiten, die uns allen einmal bevor-steht.“

(E)

Hannas, der sich bereits zu Tisch gesetzt hatte, auf einen der Stühle, welche ihm und seinen Begleitern die Rahel, die Ruth und die Debora, die Schwiegertöchter des Joseph, gastfreundschaftlich zu-gerückt hatten, und sich nun eben von Rahel einen Trunk reichen ließ, antwortete: „Gewiss, gewiss! Und doch ist es höchst schmerzlich! Wir werden dich dennoch bleibend vermissen!

Doch sage mir: Was fehlt denn der Maria, die dir aus der Hand der Priester anvertraut worden ist? Doch hoffentlich nichts Schlimmes, dass sie nicht einmal mehr den Tag des HERRN mit-feiern kann?!“

„Nein, nein! Wirklich nichts Ernstes!“, winkte Joseph ab, bemüht, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen: „Sie braucht nur viel Schlaf und Ruhe, und darf unter keinen Umständen gestört werden. Das ist schon alles.“

Hannas, dem natürlich sofort klar war, dass Joseph vorbauen wollte, er könne die erkrankte Magd unmöglich vorführen, erwiderte, immer noch höchste Besorgnis mimend: „Na, das klingt mir aber doch nach etwas Ernsterem! Da kann ich dieses Haus auf keinen Fall verlassen, bevor ich nicht über ihr gebetet und sie gesegnet habe! Wenigstens das sind wir dir alle schuldig!“

„Wirklich nicht nötig“, versuchte Joseph die höchst prekäre Situation noch zu retten: „Sonst hätten wir doch längst schon den Rabbi und die Ältesten gerufen!“ „Keine Widerrede!“ beharrte Hannas und erhob sich bereits, um sich den Weg zu Marias Kammer weisen zu lassen: „Schließlich habe ich ja dafür den weiten Weg aus der Heiligen Stadt hierher nach Nazareth auf mich genommen, um euch den Segen des Hohen Rates zu bringen, wie es mir der Hohepriester Simon Ben Boethos persönlich aufgetragen hat. So sagt schon: Wo liegt denn das arme Ding?!“

Joseph hatte sich auch erhoben und gab sich größte Mühe, sich freundschaftlich und vertraut zu geben, indem er den Schriftgelehrten am Oberarm fasste und wieder an den Tisch bat: „Warte, bitte, werter Hannas! Noch auf ein Wort!“

Doch Hannas wehrte energisch ab: „Wenn das dir anvertraute arme Mädchen schon so lange von Krankheit geschwächt und von Schmerzen geplagt danieder liegt, duldet mein vollmächtiges Gebet, für das ich aus Zion gesandt worden bin, fürwahr keinerlei Aufschub mehr! Oder willst du etwa der zarten Magd, der Geweihten des HERRN, die dir zur Obhut aus der Hand der Priester des Tempels des Höchsten anvertraut worden ist, den Segen der Siebzig des Mose und des Zepterführers des Aaron verweigern, den zu überbringen ich entsandt worden bin?!“

(F)

Und Hannas riss die nächstbeste Tür zum Gemeinschaftsraum auf, in dem sie sich befanden; und freilich: es war das Gemach der Maria, welche, die Knie an sich gezogen, um unter der Decke ihren Bauch zu verbergen, angsterfüllt auf ihrem Lager kauerte.

Hannas warf dem Joseph einen alles sagenden, vermeintlich bestürzten Blick zu und entriss der Maria mit einer Behändigkeit die Decke, dass sie diese nicht halten konnte. Dann ging er, entsetzte Überraschung mimend mit den Händen vor dem Mund zwei Schritte zurück und stieß voll aufgesetzter Entrüstung theatralisch aus: „WAS für eine SCHANDE! Die Geweihte des HERRN, die Nichte des Zacharias, des Stellvertreters des Hohenpriesters höchstpersönlich: geschändet und entehrt! – am Ende noch selbst der Unzucht schuldig geworden! – Sie hat ihr Keuschheitsgelübde gebrochen!“

Hannas tastete nach der Tür, als wäre ihm schwarz vor Augen geworden und ließ sich von den Schwiegertöchtern des Joseph wieder an den Tisch führen. Dieser junge Wächter Israels, obwohl er doch eigentlich noch „nass hinter den Ohren“ war, beherrschte schon vollends dieses kokettierte, verheuchelt bigotte Getue der altehrwürdigen Ältesten Israels und Hohen Rats-Herren, obwohl es in Anbetracht seines vergleichsweise jungen Alters völlig deplatziert, schon geradezu peinlich unverhältnismäßig war! Joseph gab einer seiner Schwiegertöchter mit einer Augenbewegung zu verstehen, dass sie die Türe zur Kammer Marias wieder schließen sollte.

Hannas verstand es – oder meinte dies zumindest, seine fromme Empörung würdig in Szene zu setzen und rang nach Luft: „Also, ich bin wirklich sprachlos! Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll! Die Geweihte des HERRN, die Nichte des ehrenwerten Zacharias, die dir aus der Hand des Höchstenpriesters selbst zur Obhut anvertaut worden ist, dass du über ihre Keuschheit wachen solltest! … ist … SCHWANGER!! Und erwartet ein KIND?!!!

Hast du gedacht, du könntest dies verheimlichen, dass du nicht in der Lage warst, ihre Unschuld zu bewahren und sie unversehrt zu halten, wofür dir diese Heilige Gottes doch schließlich anvertraut worden ist?! Warum hast du ihren Ehebruch nicht zur Anzeige gebracht?! Denn dir ist sie doch gleichsam anverlobt worden, um in deinem Haus von dir gleichwie eine allein dir Versprochene und Anbefohlene in Keuschheit bewahrt zu werden?!“

(G)

„Das wollte ich dir ja eben erklären, ehe du, von deiner Sorge übermannt, ins Gemach meiner mir Anverlobten hinein gestürmt bist“, versuchte Joseph verzweifelt noch irgendwie die Situation zu retten.

Eigentlich war er zutiefst erbost über das dreiste Auftreten dieses Jungsporns, was dieser – bestenfalls halb so alt wie er selbst – sich ihm als einen alt-ehrwürdigen Zaddik und Ältesten von Nazareth gegenüber heraus nahm, wusste aber gleichfalls, dass die Position, die dieser junge, aufstrebende Schriftgelehrte trotz seines vergleichsweise jungen Alters bereits im Hohen Rat Israels inne hatte, durchaus nicht zu unterschätzen war – zumal Joseph sich doch in einer recht misslichen Lage befand, da er die Keuschheit der ihm anvertrauten Magd ganz offensichtlich nicht bewahrt hatte.

So versuchte Joseph, die Würde seines Alters und seinen bislang völlig unbehelligten guten Ruf auszuspielen: „Ich kann dir als ein erwählter Ältester der Synagoge von Nazareth versichern: Kein Mann hat jene mir Anvertraute je angerührt! Sie ist weder der Unzucht verfallen, noch der Hurerei schuldig geworden.“

„Und woher ist dann das Kind in ihrem Leibe?!“, fragte Hannes in höhnischem Spott; und Joseph kam diese Anfrage irgendwie bekannt vor. Wieder rang Hannas aufgesetzt nach Luft: „Willst du etwa sagen, erklären, behaupten, DU …? … in deinem Alter …?!“

Joseph versuchte ausweichend zu antworten: „Das Kind in Marias Leib wird meinen Namen tragen. Es ist bereits alles geregelt und rechtens in die Wege geleitet, so, wie es das Gesetz des Mose vorschreibt. Ich werde Maria, die mir anverlobt worden ist, wie es einer Anverlobten gebührt, auch heimführen und mir zur Frau nehmen. Mein Aufgebot ist bereits bestellt und auch schon der Termin für die Vermählung festgesetzt.“

„Bei wem?!“, fragte Hannas, für einen Moment wirklich irritiert: „Bei eurem ehrwürdigen Priester Zacharias, der auch Marias Onkel ist.“ Hannas lehnte sich zurück, als hätte er eine Verschwörung aufgedeckt: „Bei Zacharias?! – dem Stellvertreter des Hohenpriesters höchstpersönlich?! Er ist also in die ganze Schmierenkomödie eingeweiht?! Das macht die ganze Sache ja nur noch schlimmer! Beträchtlich schlimmer!“

Und Hannas beugte sich wieder nach vorn, die Hände zu seinen bärtigen Wangen führend, mit den Ellbogen auf dem Tisch: „Nein, nein, mein lieber Joseph! So einfach IST DAS NICHT! Bei jedem anderen wäre es vielleicht so einfach gewesen – wie es so oft geschieht: Bei einem jeden Jungsporn, der nicht weiß, wohin mit dem Stau in seinen Lenden und eine Jungfrau beschwatzt, um ihr beizuwohnen. Er heiratet sie und wird verpflichtet, für sie Sorge zu tragen sein Leben lang, und die Sache hat sich. Aber so nicht bei dir, und in diesem Fall!

Dieses unschuldige zarte Ding ist dir unter strengster Vermahnung auf Gott, den Höchsten, als ein Geweihte des HERRN anvertraut worden, dass du über ihre Keuschheit wachen solltest!

Und wenn sie dir so auch gleichsam wie eine Anverlobte anvertraut worden ist, hat dies dich in keinster Weise berechtigt, sie auch zu ehelichen und mit ihr die Vereinigung zu vollziehen! Denn geschrieben steht, dass ein Mann, wenn er von dem Keuschheitsgelübde der Frau hört, die ihm anvertraut worden ist, diesem unversehens zu widersprechen und es öffentlich außer Kraft zu setzen hat. Andernfalls ist auch er an dies Gelübde gebunden, als hätte er selbst es mit abgelegt.

Und bei Gott: ich bin mir sicher, dass du wohl über all das Bescheid weißt, da du als ein Zaddik giltst, der in den Rechtssprechungen des HERRN sehr wohl bewandert ist! Du weißt, welches strenge unerbitterliche göttliche Gericht ein jeder über sich herauf-beschwört, der ein einmal abgelegtes Gelübde bricht, weswegen wir auch in den Schriften aufs Allerdeutlichste vermahnt werden, nur ja nicht leichtfertig irgendein heiliges Versprechen abzulegen oder zu dulden und ihm damit zuzuwilligen!

Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass du das Gelübde der Maria aufgehoben hättest, als sie dir als eine Gott-Geweihte anvertraut worden ist! Vielmehr hast du erklärt, dass du sie dir nicht einmal auch nur allein an-verloben lassen wolltest, um in deinem Alter nicht zum Gespött vor ganz Israel zu werden, dass du in deinen Tagen noch eine Jungfrau als deine Verlobte mit dir in dein Haus führst!

Nun wird mir auch klar, warum du diese Ehre, eine Geweihte Gottes in dein Haus führen zu dürfen, so energisch abgewiesen hast: Du warst dir wohl deiner selbst nicht sicher, ob du deine niederen Triebe mit diesem jungen, zarten hübschen Ding um dich auch in Zaum halten könntest! Aber diese deine schmähliche Schwäche wolltest du freilich auch nicht vor aller Welt eingestehen und enthüllen!

Hättest du doch nur erklärt, dass du jene dir allein nur dann anverloben lassen willst, wenn du sie dann auch ganz zur Frau nehmen und ihr beiwohnen kannst! Dann hätte der Hohe Rat noch einmal darüber beraten, ob er dies unschuldige Mädchen, das doch dem HERRN geweiht worden war von Kindesbeinen an, dir überhaupt noch hätte anvertrauen wollen!

Aber nein! Du wolltest ja dein Gesicht wahren, und hast darüber unsäglich schlimmere Schimpf und Schande nicht allein über dich, sondern überdies über dein ganzes Haus gebracht!

Ist dir überhaupt klar, was du damit angerichtet hast?! Sie war durch ein Gelübde an den HERRN selbst gebunden, gleichwie dem Höchsten selbst anverlobt und dir lediglich, gewissermaßen als dem Braut-Führer des HERRN, allein in Obhut gegeben, dass du als ein Diener des HERRN über ihre Unversehrtheit wachen solltest, so, als wäre sie dir selbst anverlobt worden!

Du aber?! Was hast du getan?! Du hast gleichsam die Braut des HERRN selbst verführt und sie zum Ehebruch verleitet! Kann es einen schlimmeren Ehebruch geben als diesen?! – an einer gleichsam dem HERRN selbst geweihten Jungfrau und anverlobten Braut?! Und du weißt nur zu genau, was auf solch ein Vergehen steht!

Aber damit nicht genug: Sogar Zacharias, der stellvertretende Hohepriester, wusste über all das offensichtlich, wie du eben gestanden hast und wie es alle hier Anwesenden hörten, Bescheid und hat es nicht dem Hohen Rat zur Anzeige gebracht! Das macht euch beide, wenn es sich denn tatsächlich so verhält, wie du mir glauben machen willst, in gleicher unverzeihlicher Weise schuldig und überführt euch alle als Heuchler der allerschlimmsten Sorte!“

(H)

Nach diesen drastischen Einschüchterungsversuchen schien Hannas aber schließlich einzulenken: „Doch kann und will ich es eigentlich noch immer nicht glauben, dass du selbst, ein so Ehrwürdiger Israels, der sich nie etwas zu Schulden hat kommen lassen, diesem fast noch unmündigen, unschuldigen jungen Mädchen selbst in seinem ehrwürdigen Alter noch beigewohnt haben soll!“

Hannas nämlich, dem schließlich bei allem allein nur am Sturz des Zacharias gelegen war, versuchte nun mit geschicktem Kalkül, dem Joseph eine goldene Brücke zu bauen, selbst noch – zu lasten des Zacharias – unbehelligt und zum Wohl seiner ganzen Familie aus der ganzen Sache heraus zu kommen: „So hast du sie, wie ich meine, wohl vielmehr – selbst völlig unschuldig – schwanger vorgefunden und feststellen müssen, dass sie sowohl dem HERRN als auch dir, dem sie gleich einer Verlobten anvertraut worden ist, untreu geworden ist und Hurerei getrieben hat!

Du aber in deiner Großherzigkeit und Gutmütigkeit meintest, sie schonen zu müssen, damit sie der verdienten Strafe für ihren Ehebruch entgeht und sie nicht gesteinigt wird, da du dich selbst mit in Verantwortung glaubtest, da sie doch deiner Obhut anvertraut worden war.

Und Zacharias hat dir offensichtlich entsprechend ins Gewissen geredet, dass du in der Pflicht stündest, Gnade vor Recht ergehen lassen zu müssen, da du zum Teil auch selbst mit an ihrem Fall schuldig geworden wärst, da du nicht ausreichend über ihre Unschuld gewacht hast.

Schließlich hielt jener doch sogar selbst schon seine in Schande gekommene Nichte ganze drei Monate in seinem Hause versteckt, – aber doch allein in Sorge um seinen eigenen Ruf! – bis er sie vor der Beschneidung seines Sohnes wieder entlassen musste, um die Sache weiterhin vor dem Hohen Rat verbergen zu können!

Bestimmt hat Zacharias dir irgendetwas geschrieben und dich genötigt, in Bedrängnis gebracht, du müsstet jene Gestrauchelte trotz ihres schweren Falls weiter dulden und tragen und sie dir nunmehr anvermählen, um ihre Schmach zu bedecken, da du über ihre Unversehrtheit nicht ausreichend gewacht hast!

Und doch ist ihr Vergehen doch nicht DIR anzulasten! Denn geschrieben steht: »Eine jede Seele, die gesündigt hat: DIE ALLEIN soll es treffen! Und ein jeder hat für sich selbst Rechenschaft abzulegen! Kein anderer ist dafür zur Verantwortung zu ziehen!« Kein Vater für die Tochter! Und ebenso nicht der Mann für die Frau!

So könnte ich mir das Ganze ja noch erklären, und auch noch nachvollziehen, verstehen, da ich um deine Gottesfurcht weiß, wie du dich mühst, ein gottgefälliges Leben zu führen! Der Onkel dieses Dings, Zacharias, hat dich zu solch einem vermeintlichen Akt der Barmherzigkeit zu nötigen versucht, um so zu verhindern, dass die Schande, die auf seinem Hause liegt – da es doch seine Nichte ist – ans Licht komme und aller Welt offenbar würde!

Aber auch, wenn du aufgrund deines vorgerückten Alters zu übergroßer Milde und selbstloser Nachsicht geneigt bist – so sehr, dass du lieber selbst Schande auf dich nehmen willst, als die Schande dieser Magd, die dir noch dazu von ihrem Onkel aufgezwungen worden ist, aufzudecken und zu entblößen, so stellt dies doch keinen Akt der Demut und auch keine rühmliche Großherzigkeit dar! Denn geschrieben steht: »Du sollst das Böse aus deiner Mitte ausrotten und ohne falsches Mitleid heraus-schneiden, damit die üble Wurzel nicht den ganzen Leib befällt!«

Und du vergisst überdies bei alledem: Jene Jungfrau hat sich nicht allein dir gegenüber vergangen, sondern viel mehr und einschneidender noch gegenüber dem HERRN, dessen Name »Eifersucht« ist, der keinen Treuebruch ungesühnt lassen und kein Vergehen ungestraft übergangen haben will! Darum solltest du – um des HERRN willen – jener so wirklich unverzeihlich untreu Gewordenen abschwören – wie auch all jenen, die ihre eigene Schande auf schändliche Weise zu verdecken und zu verheimlichen suchen, indem sie diese dir aufbürden und anlasten wollen!“

(I)

Als Hannas so den lebenserfahrenen Joseph zu umgarnen und in sein Netz zu ziehen suchte, wurde diesem klar, auf wen der Angriff des Hannas letztendlich im Eigentlichen abzielte, dass es diesem überhaupt nicht darum ging, Marias oder aber vielleicht auch seinen Treuebruch zu ahnden, sondern vielmehr, über dem allen dem Zacharias übel mitzuspielen und diesen in Verruf zu bringen.

Und fürwahr: Dieser aufstrebende Schriftgelehrte stellte all das so geschickt an, dass, hätte Hannas mit ihm gesprochen, unmittelbar nachdem er den Brief des Zacharias gelesen hatte, Joseph ihm wohl in die Fänge gegangen wäre! Nun aber wusste Joseph inzwischen so felsenfest mit innerer Gewissheit um die göttliche Wahrheit, dass er das intrigante Spiel jenes hohen Rats-Herren gänzlich durchschaute.

So erklärte Joseph mit einer bestimmten Entschlossenheit und auch einer höheren Autorität, der in diesem Moment selbst Hannas nicht zu widersprechen wagte: „Und doch ist diese Magd Gottes gänzlich rein und unschuldig vor dem HERRN – wie auch ich selbst. Darum werden wir uns einer Prüfung des Hohen Rates willig stellen. Ich werde heute noch mit Maria nach Jerusalem aufbrechen, um all diese unhaltbaren Vorwürfe gegen sie, wie auch gegen mich zu entkräften. Ein Gottes-Urteil soll es offenlegen, wer hier Schuld auf sich geladen hat, dass er gegen die Sache des HERRN streitet.

So werden wir unverzüglich die Reise nach Jerusalem antreten, wie wir es ohnehin schon längst vorhatten, heute zu Zacharias hinauf zu ziehen, dass er uns vermählen sollte, wie du an unserem Gebäck hier“ – Joseph wies auf die beiden gebundenen Säcke hin, die neben der Haustür standen – „deutlich sehen kannst. Es steht schon alles zur unserer Abreise bereit. Wir wären schon längst unterwegs, wenn du uns nicht mit deinen unhaltbaren Anschuldigungen aufgehalten hättest!

Nur eines noch, mein lieber Hannas“, fügte Joseph hinzu, der sich erhob und dadurch auch seine ungebetenen Gäste zum Aufstehen aufgefordert hatte, ganz nah an Hannas heran-tretend, als wolle er sich den jungen Schriftgelehrten zur Brust nehmen: „dass du erkennst, dass ich durchaus auch im Gesetz des Mose bewandert bin: Wenn jemand ein Gelübde bricht, dass er sich selbst – über die Gebote Gottes hinaus – aufgebürdet hat, so hat er damit keineswegs irgendein Gesetz übertreten, dass die Hüter der Thora ahnden könnten, müssten oder dürften! Dies ist allein eine Sache zwischen jenem, der sein heiliges Versprechen gebrochen hat, und Gott: Allein der Höchste selbst, dem er es gelobt hat, und sonst keiner, kann und darf das ahnden!

So wenn ich die mir Anverlobte dazu verleitet haben sollte, ihr Gelübde gegenüber dem HERRN zu brechen, wie du mir unterstellst, so ist das allein eine Sache zwischen dem HERRN und mir! Keinesfalls, wie du wähnst, ein Ehebruch, da sie mir doch schließlich – nach dem Gesetz! – bereits wie eine Verlobte anvertraut worden ist! Aber all dies wird sich vor dem Hohen Rat wohl noch klären!“ Und nach diesen Worten rief Joseph bestimmt nach seiner Anverlobten: „Maria?! Wir brechen auf! Wir gehen!“

Und tatsächlich trat Joseph mit solch einer unbeirrbaren Entschlossenheit auf, dass Hannas ihm nicht zu widersprechen wagte. In Joseph selbst sah es ganz anders aus. Ihm war nur daran gelegen, nunmehr, nachdem die Nacht inzwischen hereingebrochen war, wenigstens Nazareth unbemerkt mit dieser suspekten Begleitung verlassen zu können, ohne das irgendjemand im Dorf, zum Schaden seiner Familie, irgendetwas davon mitbekommen konnte, dass Joseph mit der ihr Anvertrauten, die hochschwanger war, von einer Gesandtschaft des Hohen Rates wie ein Gesetzesbrecher nach Jerusalem „abgeführt“ wurde.

(J)

Joseph und Maria wurden voneinander getrennt: Joseph wurde durch das Nikanor-Tor in den Vorhof der Männer geführt, Maria aber musste im Vorhof der Frauen verweilen. Es war noch sehr früh am Morgen, so dass sich noch kaum jemand im Tempel des HERRN befand. Dann trafen nach und nach die Hohen Rats-Herren, die Sadduzäer und die Pharisäer und Ältesten Israels, ein und begaben sich nach einem zum Heiligtum gerichteten innigen Gebet in den Tagungsraum des Sanhedrins, der sich linker Hand zwischen dem Vorhof der Männer und der Frauen befand.

Der Hohepriester Simon Ben Boethos setzte sich auf seinen Richterstuhl und auch alle Rats-Mitglieder nahmen Platz. Alsdann wurde dem Schriftgelehrten Hannas das Wort erteilt, und er berichtete dem Sanhedrin, dass Maria, welche einstmals als eine Geweihte des HERRN von ihren Eltern in den Tempel Gottes gegeben worden war, dann aber der Obhut des Witwers Joseph aus Galiläa gleich einer Verlobten anvertraut worden war, offensichtlich ihr Keuschheitsgelübde gebrochen hatte und geschwängert worden war, dies aber von Joseph, dem sie anverlobt worden war, dass er über ihre Unschuld wachen sollte, nicht zur Anzeige gebracht worden ist, sondern dass jener vielmehr mit dem Priester Zacharias überein gekommen wäre, die ihm Anverlobte wegen des Kindes, das sie nunmehr erwartete, heimlich schnell noch zu ehelichen, um so ihre Schande von ihr auf sich zu nehmen. Und Hannas schloss seine Ausführungen mit dem Ergebnis: „So gibt es meines Erachtens nur zwei Möglichkeiten:

Die erste wäre: Maria, die einstmals dem HERRN geweiht worden ist, ist der Unzucht verfallen und hat mit irgendeinem Wüstling, der sie beredet hat, heimlich, hinter dem Rücken Josephs, auf allerschändlichste Weise Hurerei getrieben. Damit hätte sie aber nach dem Gesetz Ehebruch begangen, da sie dem Witwer Joseph wie eine Verlobte anvertraut worden ist, dass er sie gleichwie seine Frau versorgen und zugleich aber auch wie ein Vater über ihre Keuschheit wachen sollte.

Joseph aber fühlte sich selbst dafür verantwortlich, dass sie des Treuebruchs verfallen konnte, da er nicht ausreichend über die ihm Anvertraute gewacht hatte, und verzichtete darum auf eine Anzeige, die für sie und die Ausgeburt ihrer Unzucht den Tod bedeutet hätte. Und da er sie doch behüten sollte, sah er sich darum überdies auch in der Pflicht, ihre Schmach nunmehr auch mittragen und sie ehelichen zu müssen, damit das Kind, das aufgrund seiner Nachlässigkeit gezeugt werden konnte, nicht unter Ächtung aufwachsen müsse.

Vielleicht hat dem armen einfachen Zimmermann sogar der hoch über ihn stehende Priester-Oberste Zacharias, der Onkel jener Ehebrecherin, dahingehend ins Gewissen geredet und den Joseph bedrängt, geradezu genötigt, dass er ihre Schande auf sich zu nehmen habe, da er nicht ausreichend über sie gewacht hätte, weil Zacharias, als Stellvertreter des Hohenpriesters, um seinen eigenen guten Ruf fürchtete, da die dem Joseph An-Verlobte doch sein Nichte ist, die Zacharias vor aller Welt als eine ganz besonders Erwählte des HERRN in den Himmel gehoben hat!

Die zweite Möglichkeit wäre: Joseph selbst hat sich die Ehe mit Maria erschlichen, obwohl sie ihm doch als eine Geweihte des HERRN anverlobt worden ist, dass er über ihre Unversehrtheit wachen sollte. Aus diesem Grund hat er sie auch nicht wegen Ehebruchs angezeigt, als sie schwanger wurde, da er wusste, dass er selbst der Vater jenes Kindes ist, sondern sie vielmehr in seinem Haus versteckt gehalten und, wenn auch höchst verspätet, noch schnell vor ihrer Niederkunft im Verborgenen – ohne Kenntnis des Hohen Rates – die Vermählung mit ihr gesucht, um seine Übertretung im Nachhinein noch zu vertuschen.

Denn wenn Joseph ihr tatsächlich selbst beigewohnt hat, so wäre auch dies schon regelrecht als eine Gesetzes-Übertretung zu werten. Denn Joseph hat, als Maria ihm aus unserer eigenen Hand anverlobt worden ist, ihrem Gelübde nicht widersprochen und damit nicht, wie es das Gesetz verlangt hätte, ihr Verzicht-Gelöbnis damit als ihr neuer Ehe-Herr öffentlich aufgehoben.

Er hat mit keinem Wort offiziell angezeigt, dass, wenn Maria ihm denn schon anverlobt werden müsse, er sie dann aber auch heimführen und vollumfänglich ehelichen wolle! Denn unter diesen Umständen wäre sie ihm als eine Geweihte des HERRN aus unserer Hand wohl überhaupt nicht anvertraut worden!

Darum sage ich: Wenn Joseph dies getan hat, dann hat er sich die Ehe mit ihr auf eine derart unredliche, verächtliche und schändliche Weise erschlichen, die regelrecht einem Gesetzesverstoß gleich kommt, den zu ahnden wir in der Pflicht stehen, da wir die Maria ihm gutgläubig aus unserer Hand übergeben und anvertraut haben.

Denn Maria ist uns von ihren Eltern einstmals anvertraut worden, dass wir sie in ihre hohe Weihe einführen sollten, einstmals als eine keusche Jungfrau allein dem HERRN zu gehören. Und wir wurden von ihren Eltern mit der Aufgabe betraut, auch nach ihrem Ableben sicher zu stellen, dass ihre uns anvertraute Tochter ihre Unversehrtheit bewahren kann.

Und nachdem sie unter unserer Obhut aufgewachsen und hingebungsvoll zu einem Leben ganz allein für den HERRN erzogen worden ist, haben wir unsererseits diese Jungfrau gleichwie unsere eigene Tochter aus unseren Händen in die jenes Witwers Joseph gegeben und ihm überantwortet, in der Überzeugung, dass er allein schon um seines ehrwürdigen Alters willen dem Mädchen nicht mehr zu nahe treten würde und so gewisslich in unserem Sinne über ihre Keuschheit und Unversehrtheit wachen würde – da Maria gänzlich unmissverständlich seiner Obhut anvertraut wurde, dass er über sie wachen sollte, dass sie als eine Geweihte des HERRN niemals von einem Mann berührt werden sollte. Und unter dieser Bedingung und Auflage allein wurde jene keusche Jungfrau ihm anverlobt! Niemals dafür, dass er sie auch wirklich als sein Weib gänzlich heimführen sollte!

So hat jener Zimmermann aus Galiläa damit nicht allein die Eltern jenes Mädchens, sondern auch uns hintergangen! Aber was noch viel schlimmer ist: Er hat überdies dieses Kind, das doch schließlich zuerst und zuletzt ganz dem HERRN persönlich geweiht war, dem Allmächtigen selbst geraubt!

Und da er damit auch gegenüber uns, den Höchsten Israels, treue-brüchig wurde und sein Versprechen nicht gehalten hat, über die Keuschheit jener Geweihten des HERRN zu wachen, stellt dies nicht nur eine verachtenswerte schändliche Tat, sondern vielmehr schon regelrecht ein Vergehen gleich einer Gesetzes-Übertretung dar – gleich einem Schwur-Bruch und Betrug, was wir zu ahnden haben, da er unser ihm entgegen gebrachtes Vertrauen mit Füßen getreten und die Jungfrau, die wir ihm gleichwie unsere eigene Tochter anvertraut haben, geschändet hat.

Denn für sein Gelöbnis, über Marias Keuschheit zu wachen, hat er schließlich auch eine beträchtliche Summe aus dem Tempelschatz erhalten – nämlich die Mitgift, welche Marias höchst wohlhabenden Eltern für sie in diesem Fall hinterlegt hatten; – und ein solcher Mein-Eid und falschen Schwur um persönlichen Gewinnes willen stellt gewiss auch nach Mose eine klare Gesetzes-Übertretung dar, die Gott ganz bestimmt nicht ungestraft sehen will, zumal dieser Joseph sich dann auf unrechtmäßige Weise am Tempelschatz bereichert hätte!“

(K)

Da meldete sich Hillel, ein angesehener Rabbi aus der Parteiung der Pharisäer zu Wort, der für seine gemäßigte, barmherzigere Linie in Fragen der Gesetzes-Auslegung bekannt war, und erklärte: „Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit, die wir ernsthaft ins Kalkül ziehen müssen: nämlich, dass jener Maria, diesem keuschen Mädchen aus unserer Hand, auch von einem unbekannten Dritten Gewalt angetan worden sein könnte und sie somit gänzlich ohne jede Schuld schwanger geworden ist! Dann wäre das junge Ding nicht zu verachten und zu bestrafen, sondern vielmehr zu bedauern und über die Maßen zu bemitleiden!

So könnte es sich auch so verhalten, dass Joseph sie eben darum nunmehr ehelichen will, da sie seiner Obhut anvertraut worden ist und er sich für sie verantwortlich fühlt, da er sie nicht ausreichend zu beschützen vermochte, so dass er sich nunmehr in der Pflicht sieht, ihre Schmach von ihr zu nehmen und selbst zu tragen.

Dann würde sein Akt, sie sich anvermählen zu lassen, nicht unsere Ächtung verdienen, sondern vielmehr unsere Wertschätzung und Bewunderung! Denn er hat sie nicht einfach kurzer Hand als eine vermeintliche Ehebrecherin von sich gestoßen, sondern sich weiterhin für sie verantwortlich gefühlt und sich ihres Elends angenommen, dass er sich bereit erklärte, sie zur Frau zu nehmen und weiterhin für sie und ihr Kind zu sorgen.

Damit hätte er sich aus Liebe zu ihr über sie erbarmt, um sie und ihr Kind vor Verwahrlosung zu bewahren, wenngleich sie den Bastard eines Heiden austrägt, und er hätte sich bereit erklärt, jenes Kind, das schließlich auch keine Schuld trifft, durch Beschneidung und gute Erziehung nach den Geboten des HERRN zu einem rechten Israeliten zu machen und dem Heil zuzuführen.

Ja, er hätte es dann schließlich überdies sogar auf sich genommen, seinen eigenen guten Ruf aufs Spiel zu setzen, um der ihm anvertrauten Magd und ihrem Kind die Ächtung zu ersparen. Denn es ist aller Welt bekannt, dass sie ihm als eine Geweihte des HERRN anvertraut worden ist, so dass man ihm wohl nachsagen wird, er habe sich selbst an ihr aufs Allerschmählichste vergangen – wie es hier ja eben bereits schon, ohne jeden Erweis seiner Schuld, vorgetragen und in den Raum gestellt worden ist.”

(L)

Schammai aber, der für eine geradezu pedantisch über-gestrenge Auslegung der Rechtsbestimmungen der Thora bekannt war, warf ein: „Dennoch muss die ganze Angelegenheit zunächst einmal eingehend geprüft werden, ob hier eine Gesetzes-Übertretung vorliegt, die nach Bestrafung verlangt – insbesondere, da das Mädchen uns höchstpersönlich einstmals aus der Hand ihrer Eltern anvertraut worden ist und es sich überdies bei ihr um die Nichte des ehrenwerten Priesters Zacharias handelt und auch dieser in die ganze Sache verwickelt zu sein scheint, da er Joseph und Maria angeblich heimlich trauen wollte, ohne es dem Hohen Rat anzuzeigen, dass jene dem HERRN geweihte keusche Jungfrau, die dem Joseph doch von uns anvertraut worden ist, um über ihre Unschuld zu wachen, plötzlich schwanger geworden ist, womit ein höchst berechtigter Verdacht auf Ehebruch und Hurerei besteht, was für die Nichte des Zacharias den Tod bedeuten würde, für ihn selbst aber den Verlust jeglichen Ansehens, das er beim ganzen Volk genießt, da er seine Nichte vor aller Welt Augen doch geradezu zu einer ganz besonders erwählten Heiligen Gottes erklärt hatte!

So scheint man hier doch irgendetwas vertuschen und verbergen zu wollen! Und das Ganze wird dadurch noch weit weit schwer-wiegender und schlimmer, dass Zacharias offensichtlich in die ganze Angelegenheit involviert ist und es als ein oberster Gesetzeshüter Israels nicht zur Anzeige gebracht hat!

Darum stehen wir in der Pflicht, dem aufs Gründlichste nach-zu-gehen – zumal das Ansehen des Zacharias als einem Rat-Herrn aus unseren Reihen immer mehr wächst, seit ihm ein Engel im Tempel Gottes erschienen sein soll und er überdies in seinem hohen Alter noch mit einem Sohn gesegnet worden ist, worin das einfache Volk ein bedeutsames Wunder Gottes zu sehen glaubt.

Denn wenn hier tatsächlich am Ende Unzucht, Hurerei oder Ehebruch im Spiel ist und dies auf Dingen des Zacharias auf unredliche Weise verschleiert werden sollte, so dürfte das insbesondere auch für ihn und das Amt, das er begleitet, nicht ohne Folgen bleiben, da jener in diesem Falle schließlich seine hohe priesterliche Stellung und das ihm entgegen-gebrachte Vertrauen des ganzen Sanhedrins auf aller-schändlichste Weise missbraucht hätte!

So haben wir – schon um seinetwillen – die ganze unselige Angelegenheit genauestens zu prüfen und aufzuklären! – sei es, um ihn eines niederträchtigen Vertuschungsversuchs zu überführen, oder aber, um gegenüber allen im Raum stehenden Verdächtigungen seine Unbescholtenheit und Lauterkeit ans Licht zu bringen.“

Dem Zacharias, der als Stellvertreter des Hohenpriesters in Hinblick auf die Beaufsichtigung der Erweiterungsarbeiten am Tempel des HERRN freilich auch ein Mitglied des Hohen Rates war, wurde nämlich von Simon Ben Boethos nahe gelegt, er möge dieser Rats-Versammlung aufgrund möglicher Befangenheiten – seinerseits, wie auch ihm selbst gegenüber – nicht beiwohnen, wobei dieser Rat des Hohenpriesters freilich schon mehr einer Weisung gleich kam.

(M)

Nach dieser vorgebrachten Forderung des Rabbi Schammai nach lückenloser Aufklärung und gegebenenfalls strenger Ahndung gab allerdings nochmals der altehrwürdige Rabbi Hillel, der immer zu Milde neigte, zu Bedenken: „Wenn Joseph nun tatsächlich eid-brüchig geworden ist und seinen Schwur vergessen hat, so muss das allerdings noch nicht bedeuten, dass er vorsätzlich so gehandelt und uns alle böswillig hintergangen hat!

Er kann auch einfach nur schwach geworden sein, nachdem er über Jahre von diesem zarten, lieblichen Mädchen umgeben war, so dass er sich mit diesem seinem Eid-Schwur und Gelübde schlichtweg selbst überschätzt und übernommen hat.

Und dann steht für mich hier schon die Frage im Raum, ob dies dann überhaupt von uns in irgendeiner Form geahndet werden kann und auch darf. Denn wenn Joseph auch einstmals dem Gelübde über Marias Leben, die er gleich einer Verlobten mit sich geführt hat, nicht widersprochen und somit zugestimmt hat, so hat er damit zwar auch sein eigenes, damit abgelegtes Versprechen gebrochen, dass er´s nicht, wie er es wollte und zu tun gedachte, auch einhalten konnte, was ganz gewiss schändlich und verachtenswert ist und auch ein göttliches Gericht nach sich ziehen kann: aber er hätte damit doch kein einziges Gebot Gottes explizit übertreten, was wir zu ahnden verpflichtet wären.

Denn wer ein Gelübde ablegt, legt sich selbst eine Verpflichtung auf, die über Mose hinaus geht. Wenn jemand also sein Versprechen nicht einhält und bricht, so hat er damit doch gegen kein Gebot des Mose verstoßen, wofür er von Menschen zur Verantwortung gezogen werden könnte. Darum kann einen solchen Eid-Bruch auch niemand ahnden als Gott allein!

Nun, wenn Joseph tatsächlich schwach geworden ist und der Maria, die ihm als keusche Jungfrau anverlobt worden ist, beigewohnt hat, so ist das Einzige, was das Gesetz in einem solchen Falle auferlegt, dass er das Mädchen, das er zur Frau gemacht hat, dann auch zur Frau nehmen muss und für sie Sorge zu tragen hat sein Leben lang, da sie andernfalls entehrt ein jämmerliches Dasein ohne Hüter fristen müsste, wozu jener Unhold, der ihr die Unschuld geraubt hat, sie verdammt hätte.

Darum muss er dann fortan auch für sie Sorge tragen sein Leben lang, da er sie dann zu ehelichen und als seine Frau in sein Haus zu führen hat. Dies allerdings gedachte jener Witwer Joseph bereits zu tun, ungeachtet dessen, welchen Ruf er sich damit einhandeln mag, und er hätte damit die schweren Folgen seiner unbedachten Tat bereits auf sich genommen, so dass nach den Bestimmungen des Mose keine weitere Bestrafung mehr nötig wäre.

Und auch Zacharias hätte – gesetzt den Fall, das Ganze würde sich so verhalten – unter diesen Umständen kein Unrecht begangen, wenn er sich – als der nächste Verwandte der Maria – bereit erklärt hat, als ein Priester Gottes die Trauung zu vollziehen.

Und da in diesem Falle eigentlich auch keine schwerwiegende Gesetzesübertretung vorlag, da Joseph lediglich – nach den äußeren Bestimmungen – das Mädchen, das ihm schon anverlobt worden war, auch heim-geführt hätte, bestand auch keinerlei Anlass dafür, dass der Hohe Rat darüber hätte unterrichtet und die Ältesten Israels damit behelligt hätten werden müssen.

Und es ist auch nur verständlich, wenn Zacharias – auch insbesondere zum Schutz seiner Nichte und ihres Kindes, die unter einem schlechten Ruf ihres Oberhauptes mit-zu-leiden hätten – die ganze Angelegenheit äußert diskret behandelt hat.

Was aber den Gelübde-Bruch des Joseph und vielleicht auch der Maria, sofern sie sich ihm willig ergeben hat, beträfe, der freilich – das soll überhaupt nicht in Abrede gestellt werden – verachtenswert und verwerflich wäre, so bliebe dies doch allein Gottes Sache, dies zu ahnden und zu richten, da es für die Nicht-Einhaltung selbst auferlegter Bürden zu Ehren Gottes keinerlei gesetzliche Bestimmungen gibt, dass dies in irgendeiner Weise von Menschen zu ahnden wäre!“

(N)

Schammai meinte aber doch, dem allzu nachsichtigen Hillel widersprechen zu müssen: „In diesem ganz besonderen Fall verhält es sich meines Erachtens aber doch so, dass wir uns nicht ganz aus der Verantwortung stehlen können, da jenes Mädchen uns schließlich einstmals von ihren Eltern als ein Kind überantwortet worden ist, das einzig und allein dem HERRN geweiht sein sollte, da es durch ein Wunder Gottes überhaupt noch in Existenz gerufen worden ist. Und wir wurden in die Pflicht gerufen, dass wir über ihre Keuschheit wachen sollten.

Und eben diese Bürde haben wir auf göttliches Geheiß auf jenen Zimmermann Joseph aus Galiläa übertragen, der hiefür durch Zeichen vom Himmel auserwählt worden ist, und den wir in gleicher Weise verpflichtet haben. So hätte jener als ein lüsternder Witwer nicht nur uns hintergangen und damit auch Schande über uns alle, den ganzen Hohen Rat, gebracht, da wir dem Verlangen der verblichenen Eltern jenes Kindes nicht ausreichend nachgekommen sind, sondern er hätte überdies selbst Gottes Weisungen vom Himmel her missachtet.

Darum träfe uns zwar in diesem Falle zunächst wohl kaum eine Schuld: denn jener Joseph hätte uns schließlich in gleicher Weise wie auch Gott selbst, der ihn gewürdigt hatte, hintergangen! Mitschuldig würden wir uns allerdings machen, wenn wir dies sein Verbrechen, nachdem der HERR selbst es nunmehr ans Licht gebracht hat, ungestraft ließen!

Maria nämlich war schließlich von Mutterleibe an ganz und ausnahmslos allein nur dem HERRN selbst versprochen gleichwie einem Ehemann! Und Joseph war entsprechend lediglich, um in diesem Bild zu bleiben, als ihr Brautführer bestellt worden, der sie dem HERRN rein und unbeschadet überbringen sollte. So käme dieser Eidschwur- und Gelübde-Bruch jenes Joseph doch in gewisser Weise regelrecht einem Ehebruch gleich: Denn er hätte sich an einer Braut des HERRN selbst vergangen!

Darum fürchte ich, wir würden den Zorn des Höchsten herauf-beschwören, dessen Name, wie wir alle wissen, »Eifersucht« ist, wenn wir eine derartige Schandtat gänzlich ungestraft ließen, nachdem die göttliche Fügung diesen Frevel, den Joseph im Verbund mit Zacharias geheim zu halten versucht hätte, doch entblößt und aufgedeckt und an uns heran getragen hat, um darüber Sein Urteil zu verhängen!

(O)

Auf diese Widerworte entgegnete wiederum Hillel: „Bevor wir aber irgendein übereiltes Urteil fällen, sollten wir vielleicht doch erst einmal die beiden selbst eindringlich befragen und aufzuklären suchen, was nun eigentlich wirklich überhaupt vorgefallen ist: ob nun Maria sich zu Hurerei hat verleiten lassen, was einem Ehebruch gleich käme, der mit dem Tod durch Steinigung bestraft werden müsste, oder aber, ob Joseph, dem sie anverlobt worden war, selbst schwach geworden ist, was einem Gelübde- und Eid-Bruch gleich käme, dessen Ahndung als uns obliegende Pflicht meines Erachtens aber höchst fraglich wäre, oder aber, ob dem Mädchen am Ende wider seinem Willen von einem unbekannten Dritten Gewalt angetan worden ist, so dass alle frei von Schuld wären und Joseph und Zacharias sich überdies in dieser Angelegenheit sogar höchst löblich verhalten hätten. Erst danach macht es Sinn, noch weiter darüber zu debattieren, welche Konsequenzen unsererseits gegebenenfalls einzuleiten sind.“

Also führte man Maria aus dem Vorhof der Frauen, wo sie zu warten hatte, in den Versammlungsraum des Hohen Rates, um sie als Erste eingehend zu befragen. Denn man war der Überzeugung, dass jenes junge Mädchen noch am ehesten die Wahrheit offenlegen würde, wenn man sie nur ausreichend genug in Bedrängnis bringen würde.

So wurde Maria in die Mitte der Siebzig Ältesten Israels geführt, und der Hohepriester Simon Ben Boethos fuhr die Jungfrau streng an: „Maria, die du unter den Heiligen Israels aufgezogen worden bist wie eine Tochter! Wie konntest du nur solches tun, dich derart zu erniedrigen und zu entwürdigen, den HERRN, deinen Gott, der sich deiner in so ganz auserlesener Weise angenommen hat, gänzlich zu vergessen?!

Du, die du im Allerheiligsten, im Herzen Israels, aufwachsen durftest und von uns, den Höchsten Israels, aufgezogen worden bist und überdies verköstigt wurdest aus der Hand von Engeln und die du wunderbare himmlische Gesänge im Tempel hast hören dürfen, die dich veranlassten, voll Anmut zu tanzen vor dem HERRN, deinen Gott! Warum nur hast du solches getan, dich nun derart zu beflecken und zu besudeln?!“

Maria aber weinte bitterlich und beteuerte: „So wahr der HERR, mein Gott, lebt: Ich bin rein vor Ihm und weiß von keinem Mann!“

Joseph nämlich, als er auf dem Weg von Nazareth nach Jerusalem Gelegenheit fand, Maria zur Seite zu nehmen, hatte dem Mädchen eindringlichst eingeschärft, nur ja vor dem Hohen Rat nichts von jenem Engel zu sagen, der sie heimgesucht hätte. Und Joseph hatte ihr vor Augen geführt, dass man über derartige Bekundungen so ungehalten entrüstet würde, dass man sie unversehens – ohne weitere Verhandlung – packen, vor die Tore der Stadt hinaus schleifen und dort steinigen würde.

„Du weißt ja noch, wie ich zuerst selbst aufgebracht war, als ich solches von dir hörte! Wenn eine derartige Bestürzung aber die gesamte Männerschaft erfasst, dann wird fürwahr kein Halten mehr sein!“, hatte Joseph ihr erklärt: „Darum halte dich fest daran, nichts anderes als einzig immer wieder nur dies EINE zu beteuern, dass du keine Hurerei getrieben hast!“

Als nun Maria beschwor, keinen Ehebruch begangen zu haben, fuhr Schammai sie an: „Aber du bist doch schwanger! Also war da doch ein Mann im Spiel!“ Und Hillel versuchte, der Maria eine Brücke zu bauen: „Mädchen: Ist dir Gewalt angetan worden und du schämst dich nur unsäglich dafür?

In diesem Falle träfe dich aber doch überhaupt keine Schuld, sondern allein den Wüstling, der dir das angetan hat! Und wir versichern dir, wir würden diesen Verbrecher unversehens ergreifen und mit der ganzen Schärfe des Gesetzes zur Verantwortung ziehen für das, was jener dir angetan hat! Du aber kämst ohne jede Bestrafung oder Ächtung davon!“

Maria aber wiederholte, wie auswendig gelernt, nur: „Rein bin ich und weiß von keinem Mann!“

Da fragte der Hohepriester: „So wenn es kein Fremder war: Hat dich vielleicht Joseph, dessen Obhut du anvertraut worden bist, genötigt, ihm willfährig zu sein, und du fürchtest dich, da er über dich als dein Ehe-Herr bestellt worden ist? Auch dann wärst du frei von Schuld, und allein er hätte sich dafür zu verantworten, dass er dir deine Unschuld geraubt und dein Keuschheitsgelübde missachtet hat.“

Aber auch darauf antwortete Maria erneut: „Bei Gott, dem Allmächtigen! Ich versichere euch: ich bin rein geblieben und weiß von keinem Mann!“

Da gaben sie es auf, Maria länger zu befragen, da sie offensichtlich nicht gewillt war, ihnen zu enthüllen, was vorgefallen war. Dies freilich aber schien den ersten Verdacht zu erhärten, den Hannas geäußert hatte, dass sie sich willig der Unzucht ergeben und mit einem Liebhaber hinter dem Rücken Josephs Hurerei getrieben hatte, und jetzt offensichtlich wenigstens diesen, ihren Geliebten, vor einer Bestrafung schützen wollte, nachdem die ganze schändliche Sache nun aufgeflogen war. Denn jener Ehebrecher wäre freilich, wie auch sie selbst, mit dem Tode durch Steinigung bestraft worden.

Oder aber es war Joseph selbst gewesen, und das junge Ding getraute sich nicht, ihren Ehe-Herrn zu belasten – aus Furcht, da sie ihm unterstellt und ausgeliefert war.

Denn sein Vergehen hätte wohl kaum eine Steinigung nach sich gezogen, da Maria ihm schließlich bereits anverlobt war und er nur ein selbst auferlegtes Entsagungsgelübde nicht eingehalten hatte. Maria aber wäre ihm dann gänzlich anvermählt worden nach dem Gesetz und damit unter seine Macht gekommen , nachdem sie dann aber seinen Ruf durch ihr Geständnis nachhaltig geschädigt und damit Schimpf und Schande nicht allein über ihn, sondern auch über sein ganzes Haus gebracht hätte.

All diese Möglichkeiten erwogen die Rats-Herren, als man Maria wieder entlassen hatte. Nachdem die Ältesten Israels aber von dem Mädchen nichts in Erfahrung bringen konnten, galt es nunmehr, Joseph streng zu befragen, um vielleicht wenigstens ihn noch zu einem Geständnis bewegen zu können.

(P)

Und als Joseph vor den Sanhedrin geführt worden war, eröffnete der Hohepriester das Verhör mit den Worten: „Werter Joseph, dem wir das hier unter Verdacht auf schändlichen Ehebruch stehende Mädchen einstmals anvertraut haben: Du weißt, aus welchem Grunde diese Ratsversammlung abgehalten wird. Ich kann dir aber versichern, dass du hier im Augenblick nicht als Angeklagter stehst, sondern vielmehr als ein Zeuge wider sie, da wir wissen, dass dein Ruf tadellos ist und du als ein gottesfürchtiger Mann hoch geachtet bist.

Maria, die dir einstmals aus unserer Hand als eine Verlobte zugeführt worden ist, verweigert uns die Aussage und will uns nicht enthüllen, wie sie zu dem Kind in ihrem Leib gekommen ist. Das macht sie in höchsten Maße verdächtig, dass sie der Hurerei schuldig geworden ist und nunmehr, nachdem ihre Blöße aufgedeckt worden ist, ihren heimlichen Liebhaber schützen will.

So erkläre uns: Warum hast du ihren Ehebruch nicht zur Anzeige gebracht und willst ihre Scham bedecken, nachdem sie dich so schmählich hintergangen hat, statt sie der Bestrafung zuzuführen, die in einem solchen Fall durch Mose geboten und auch mehr als angebracht ist?

Fühlst du dich etwa für ihren tiefen Fall verantwortlich, da du meinst, nicht ausreichend über ihre Unschuld gewacht zu haben, dass du sie über allem nicht einmal entlassen und ihr den Scheidebrief ausgestellt hast, sondern deinen eigenen Ruf ruinieren zu müssen meinst, dass du diese Gefallene auch noch zur Frau nehmen und das Kind als das Deinige annehmen willst, obwohl doch alle Welt weiß, dass jene dir Anverlobte eine Geweihte des HERRN war, so dass man dir nachsagen wird, dass du ihr Keuschheits-Gelübde auf höchst schändliche Weise missachtet hättest, dass du selbst dich in deinem Alter über jenes dir zur Obhut anvertraute zarte Mädchen hergemacht hättest, so dass du sie in deinen Tagen noch ehelichen musstest!

Warum meinst du, sie decken und schützen zu müssen, dass du ihre Schmach und Schande auf dich nehmen und überdies Ächtung und Verruf auf dein ganzes Haus bringen willst?! Denn wir wissen doch, dass du ein gottesfürchtiger Mann bist, der höchst ehrenwerte Dienste an der Vollendung des Hauses des HERRN geleistet hat, so dass dich fürwahr keine Schuld träfe – ebenso wenig wie einstmals den frommen Uria, welchen der in schwere Schuld gefallene König David hintergangen hatte, indem er der ihm anvertrauten Batseba hinter dessen Rücken beigewohnt und ihr ein Kind gemacht hatte, während dieser selbst pflichtbewusst im Lager des HERRN bei den Kriegern Gottes verblieb.

So wenn wir jene Magd dir auch anvertraut haben, dass du über ihre Keuschheit wachen solltest – eine Bürde, die du sicher für die Zeit deiner Abwesenheit für deinen Dienst am Heiligtum Gottes, wo du mit deinen Söhnen zur Erstellung von Bau-Gerüsten beauftragt warst, wohl an deine Schwiegersöhne und deren Väter übertragen hast, so wissen wir doch, dass dich selbst keine Schuld träfe, wenn Letztere dir nicht ausreichend Ehrfurcht erwiesen und über sie gewacht haben, als wäre sie ihnen selbst anverlobt worden.“

(Q)

Und Hannas, welcher die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte, mit der Absicht, damit dem stellvertretenden Hohenpriester Zacharias zu schaden, fragte den Joseph: „Oder hat dich etwa Zacharias, der Onkel jener Ehebrecherin, unter Missbrauch seines hohen Amtes als ein Hoherpriester des HERRN genötigt und bedroht, die Sache auf dich nehmen zu müssen, indem er dir einredete, die unverzeihliche Abtrünnigkeit seiner angeblich so heiligen Nichte wäre dir als ihrem Hüter und Oberhaupt anzulasten, so dass du in der Pflicht stündest, ihre Scham zu bedecken?“

Und Hannas ging, Vertrauen zu erwecken suchend, einige Schritte auf Joseph zu: „Erkennst du nicht, dass jener Zacharias allein nur um seinen eigenen Ruf fürchtet, da es seine Nichte ist, so dass er die Schande von seinem Hause auf das deine abwälzen will, um das hohe Ansehen, dass er sich durch geschickte Machenschaften im ganzen Volk erschlichen hat, nicht auf einen Schlag zu verlieren?

So gestehe, dass man dich auf unredliche Weise bedrängt hat, dass du die Übertretungen anderer ausbaden sollst, obwohl dich selbst überhaupt keine Schuld trifft! So soll die ganze Angelegenheit für dich keine Konsequenzen haben, da du von Zacharias, der seine Stellung missbraucht hat, unter Druck gesetzt worden bist, so dass vielmehr er allein, wie auch seine unzüchtige Nichte, von uns zur Verantwortung gezogen wird.“

(R)

Joseph aber beteuerte: „So wahr der HERR, vor dem alles bis in die tiefsten Abgründe des Scheol und Hades bloß und aufgedeckt ist, wahrhaft alles sieht und bei all Seiner Gnade doch wirklich keine Übertretungen ungestraft lässt: Das Mädchen ist unschuldig! Sie hat ihr Keuschheitsgelübde bewahrt bis auf den heutigen Tag! Sie hat weder Unzucht getrieben, noch ist sie der Hurerei und des Ehebruchs schuldig geworden. Denn als ein ehrenwerter Mann und Ältester von Nazareth, unter dessen Dach sie nunmehr schon drei Jahre wohnte, kann ich euch versichern: Es gibt keine tugendhaftere, gottesfürchtigere Jungfrau als diese, die ihr mir – bestens erzogen – aus dem Haus des HERRN anvertraut habt.

Auch hat mich der Hohe Rats-Herr und ehrwürdige Priester Zacharias, dessen Gunst bei Gott aller Welt ersichtlich ist, in keinster Weise beredet, sondern vielmehr war ich es, der ganz von sich aus mit dem Gesuch an ihn heran getreten ist, mich mit der mir Anverlobten nach Recht und Gesetz zu vermählen.“

Da schaltete sich Hillel ein und fragte: „Willst du uns damit erklären, dass jener zarten Magd wider ihren Willen von einem fremden Wüstling Gewalt angetan worden ist, der sie aufs Übelste geschändet hat, so dass weder sie, noch dich irgendeine Schuld trifft – und auch Zacharias löblich gehandelt hat, dass er die dir anvertraute Maria, sowie ihr Kind vor öffentlicher Ächtung bewahren wollte, dass das Kind als dein rechtmäßiger Sohn aufwachsen könnte, ohne unter dem Verruf zu stehen, ein Bastard und die unzüchtige Zeugung und die Ausgeburt eines wüsten Hurenbocks zu sein?“

Joseph erkannte wohl, welchen Ausweg aus der ganzen Misere ihm hier durch den für seine Barmherzigkeit und Milde bekannten Hillel angeboten wurde. Jedoch verbot es dem Joseph seine Wahrheitsliebe und sein Gewissen, vor dem höchsten Gericht Gottes meineidig zu werden.

So bekannte er – im Vertrauen auf den HERRN, dass dieser trotz allem auf irgendeine wundersame Weise wohl alles noch gut hinaus führen könnte: „Nein. Dem Mädchen, das mir aus euren Händen zur Obhut anvertraut worden ist, ist auch von niemanden Gewalt angetan worden; sondern sie war allezeit wohl behütet und umschirmt, sowohl von mir, als auch von denen, die ich an meiner Statt damit beauftragt habe, über sie zu wachen, während ich meinen Dienst an der Vollendung des Heiligtums Gottes tat.“

Da erhob sich Schammai und erklärte: „Dann bleibt nur noch eines übrig!“ Und mit dem Finger auf Joseph weisend wandte er sich an die anderen Rats-Mitglieder: „Dann hat sich dieser da selbst an dem Mädchen vergangen und seinen Schwur gebrochen, den er vor uns allen und insbesondere vor dem HERRN abgelegt hat, sie in Keuschheit zu bewahren!“

Und der Hohepriester, Simon Ben Boethos, entrüstete sich: „Wie konntest du nur so etwas tun, dass du jene, die dem HERRN selbst geweiht worden und die dir aus unseren Händen anvertraut worden ist, um über ihre Unschuld zu wachen, selbst geschändet und um ihre Unversehrtheit gebracht hast?!“

Joseph aber entgegnete: „So wahr der HERR, mein Gott, lebt: Frei von Schuld bin ich an ihr! Ich habe kein Gebot des Mose übertreten.“

Da wirschte der Hohepriester den Joseph an: „Leg kein falsches Zeugnis ab, nachdem du ganz offensichtlich schon einmal eid-brüchig geworden bist und deinen Schwur, diese unberührt zu halten, vergessen hast! Sag uns die Wahrheit! Dann hast du uns also alle hintergangen und dir die Hochzeit mit dieser dir anvertrauten unbefleckten Jungfrau erschlichen, und hast ihr beigewohnt, ohne es vorher öffentlich zu bekunden und zur Anzeige zu bringen, dass du die dir anverlobte Magd nunmehr auch ehelichen wolltest, und hast so dein Haupt nicht vorher unter die gewaltige Hand Gottes gebeugt, damit dein Same gesegnet wäre! Sondern du hast sie vielmehr genötigt, ihr Keuschheitsgelübde zu brechen, dem du selbst vormals vor uns allen zugestimmt hast, und hast so den Zorn des HERRN über dich herauf-beschworen!“

Joseph aber ließ sich nicht einschüchtern, da er ein Zaddik und im Gesetz des Mose durchaus bewandert war und wusste, dass man ihn wegen eines nicht eingehaltenen Gelübdes nicht belangen konnte; und er erklärte: „Ich werde Maria, die mir anverlobt worden ist, zur Frau nehmen, wie es das Gesetz verlangt. So wird ihr Kind rechtens mein Sohn sein und meinen Namen tragen, und aller Welt wird offenkundig sein, dass er kein Bastard und Huren-Sohn ist und seine Mutter weder ihr Gelübde gebrochen, noch Ehebruch begangen hat oder von irgendeinem Heiden geschändet worden ist.“

Nachdem Joseph bislang aber immer ausweichend geantwortet hatte, fragte Hannas noch einmal ganz direkt: „So hast du ihr also tatsächlich beigewohnt und jenes Kind gezeugt?!“ Joseph aber schwieg dazu. Da wurde Hannas laut: „So gestehe schon endlich! Das Kind kann ja wohl nicht vom Himmel gefallen sein! Es ist also wahrhaftig aus deinen Lenden!“ Joseph aber sagte dazu kein einziges Wort.

(S)

Da befahl der Hohepriester, über die Maßen erbost: „Hinaus mit ihm! Aus diesem findigen Winkel-Advokaten ist ja noch weniger heraus zu bringen, als aus der ihm anbefohlenen Magd!“

Und als man Joseph unsanft hinaus gewiesen hatte, wandte sich der Schriftgelehrte Hannas an den Hohen Rat: „Nachdem beide so nachhaltig ihre Unschuld beteuern und insbesondere Joseph nicht unmissverständlich erklären will, dass er der Vater des Kindes ist, bin ich der Ansicht, dass wir vom Allerschlimmsten auszugehen haben: dass Maria sich vorsätzlich und willig des Ehebruchs schuldig gemacht hat, worauf Tod durch Steinigung steht, Joseph aber von Zacharias genötigt oder vielleicht am Ende gar mit großzügigen Geldversprechungen bestochen worden ist, Marias Schande zu bedecken, da Zacharias um seinen guten Ruf und sein aussichtsreiches Ansehen sowohl bei Herodes, als auch beim ganzen Volk fürchtet, welches durch die Schandtat seiner von ihm so hofierten Nichte gewiss stark in Mitleidenschaft gezogen würde – wo er sich wohl schon insgeheim mit der Hoffnung getragen hat, einstmals selbst noch zu höchsten Würden zu kommen und die Nachfolge unseres ehrenwerten Hohenpriesters antreten zu können, den Zacharias bereits schon in Angelegenheiten des Tempels vertritt. Damit wären alle drei hinlänglich der niederträchtigsten Machenschaften überführt, was nach härtester Bestrafung für alle drei verlangt!

Denn da Joseph seine eigene Schuld nicht eingestehen will, andererseits aber ebenso die ihm anvertraute Magd auch von aller Schuld frei sprechen will, macht das die ganze Sache doch in höchstem Grade suspekt und verdächtig! Denn wie schon gesagt: Irgendwie muss jene keusche Jungfrau doch zu dem Kind gekommen sein!“

Und Hannas belustigte sich: „Das Kind kann ja nicht vom Himmel gefallen sein!“, worauf er zustimmendes Gelächter erntete. „Wie kann da dieser Zimmermann aus dem heidnischen Galiläa einen Freispruch für sich und seine Magd erwarten, wenn er uns nicht offen darlegen will, wie sie zu dem Kind gekommen ist?!“

Da erhob sich Hillel und erklärte: „Dem kann ich so nicht zustimmen! Denn wenn dem so wäre, wie unser ehrenwerter junger Bruder in jugendlichem Über-Eifer für den HERRN und die Thora des Mose mutmaßt, dass Joseph um persönlichen Vorteils willen einen Ehebruch der ihm Anverlobten vertuschen will, so hätte Joseph nunmehr nur erklären müssen, dass das arme Ding von irgendeinem Unbekannten geschändet worden ist und sich nur über alle Maßen dafür schämt, dass sie´s weder uns, noch vielleicht sogar auch sich selbst eingestehen kann, und dass er, Joseph, ihr Hüter, und Zacharias, der Onkel jenes armen Mädchens, darin überein gekommen sind, die unschuldig entehrte Maria nach allem, was ihr bereits angetan worden ist, vor noch schlimmeren Unrecht bewahren zu wollen, indem Joseph sie zur Frau nimmt und das Kind als das Seinige annimmt und ausgibt.

Ich habe dem Joseph diesen Ausweg angeboten, aber er hat ihn dennoch nicht beschritten und deutlich in Abrede gestellt, dass dem Mädchen hinter seinem Rücken Gewalt angetan worden wäre, obwohl das sie alle drei, sowohl Maria, wie auch Zacharias, wie auch ihn, den Joseph selbst, von jeder Schuld frei gesprochen hätte! Allerdings hätte er das Kind, das er als das Seinige anzunehmen gedenkt, damit in Verruf gebracht, ein heidnischer Bastard zu sein.

Andererseits hat Joseph überdies auch wiederum nicht gestehen können, dass er also folglich selbst der Vater des Kindes in Mariens Schoß ist, als würde ihm das sein Gewissen verbieten und er damit auch meineidig werden – was aber wiederum überhaupt nicht damit zusammenpasst, dass er so unverfroren wäre, um Geldes willen jene Magd zu decken, die ihn durch Hurerei hintergangen hat.

So ist die ganze Angelegenheit nunmehr jetzt, nach unserem Verhör, vielmehr noch undurchsichtiger und unverständlicher geworden, als wie sie es schon im Vorfeld war!

Die Sache ließ sich nach meinem Empfinden absolut in keinster Weise befriedigend aufklären und wir wissen nicht, aus welchen Beweggründen uns alle beide nicht enthüllen wollen, wie jene Magd zu ihrem Kind gekommen ist – und alle denkbaren Möglichkeiten stehen nach wie vor offen im Raum. Wie sollen wir da ein gerechtes Urteil fällen können?! Ich jedenfalls wage es nicht, allein auf bloße Mutmaßungen hin irgend einen Schiedsspruch – am Ende gar über Leben und Tod! – zu fällen!“

(T)

Der Hohepriester aber lehnte sich auf seinem Richterstuhl zurück, kräuselte bedächtig seinen Bart und erklärte, mit einem Mal wieder völlig ruhig geworden, als hätte er eine himmlische Eingebung empfangen: „Nun, vielleicht müssen wir das auch garnicht! Vielleicht müssen wir gar kein Urteil fällen! … Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg: Überlassen wir die Entscheidung doch Gott selbst!

Ihr wisst, dass es eine Bestimmung gibt, welche Ehebruch aufdeckt, wenn er im Verborgenen begangen worden ist und sich kein Zeuge ausfindig machen lässt: nämlich die Verordnung vom Fluch-Wasser der Eifersucht, das der Ehebrecherin gereicht wird, dass sie es trinken muss. Und wenn sie der Hurerei schuldig geworden ist, wird das fluchbringende Wasser der Bitterkeit sie niederstrecken, dass sich ihre Eingeweide davon aufblähen werden und sie daran zugrunde geht. Und ihr wisst, dass manche unzüchtige Weiber unvermittelt durch den Zorn des HERRN niedergestreckt wurden, nachdem sie das Wasser der Prüfung zu sich hatten nehmen müssen.

So lasst uns ihnen BEIDEN dies Wasser der Eifersucht reichen. Denn eifersüchtig zürnt der HERR einer jeden Seele, die Ihm abtrünnig geworden ist oder aber Ihm eine andere Seele abspenstig gemacht hat. Und nachdem diese Magd dem HERRN selbst wie eine Braut zugesprochen worden ist, dass sie Ihm allein gehören sollte ihr Leben lang, wird Er diese Ihm so schändlich untreu Gewordene gewiss niederstrecken, wenn sie sich der Hurerei ergeben und ihre Weihe besudelt hat. Und ebenso wird das Wasser der Eifersucht auch ihren Hüter treffen, dem sie gleich einem Brautführer des HERRN anvertraut worden ist, dass er über ihre Keuschheit wachen sollte, wenn er selbst sich an ihr vergangen hat.

So wird der HERR selbst aufdecken, wer sich an Ihm schuldig gemacht hat, und auf diesem Wege zugleich auch jede Übertretung Seiner Satzungen selbst ahnden. Denn ihr alle wisst: Schon viele sind daran zugrunde gegangen, als man ihnen das Fluch-Wasser gereicht hat! Wenn diese aber durch das Urteil des Höchsten selbst dahingerafft werden, dann wissen wir auch, was wir von Zacharias zu halten haben, der in die ganze Sache verwickelt ist.“

(U)

Da erhob sich Hillel und erklärte: „Dies scheint mir eine höchst findige Lösung für unser Dilemma zu sein. Denn so laufen wir nicht Gefahr, ein Fehl-Urteil zu fällen, sondern vertrauen die ganze Sache dem HERRN selbst an, dass Er über die hier Beschuldigten und Angeklagten selbst Sein Urteil verhängen soll. Dann wird sich erweisen, ob Maria, und vielleicht gar auch Joseph einer todeswürdigen Gesetzes-Übertretung schuldig geworden ist. Denn dann wird der Fluch des HERRN sie treffen.

Sollten diese beiden aber vom HERRN gerichtet werden, oder vielleicht auch nur jene in Sünde gefallene Magd allein, weil sie hinter dem Rücken ihres Hüters, dem sie anverlobt worden war, Ehebruch begangen hat, so ist damit aber meines Erachtens noch keineswegs irgendeine Schuld des Zacharias erweisen, dass jener auf niederträchtige Weise den Joseph als den Hüter seiner Nichte auch bedrängt und genötigt haben muss, deren Ehebruch zu vertuschen und zu verheimlichen.

Denn Joseph hat erklärt, dass er selbst aus freien Stücken an Zacharias heran getreten ist und ihn gebeten hat, die ihm Anverlobte mit ihm zu vermählen – wohl unter der Erklärung, dass er ihr und ihrem Kind aus Mitleid und Erbarmen die Ächtung ersparen wolle, dass sie die Mutter eines Bastards ist.

So könnte auch Zacharias selbst getäuscht worden sein, weil man ihm beteuert hat, seiner Nichte sei Gewalt angetan worden, dass sie ohne eigene Schuld von einem Fremden geschändet worden ist.

Wenn Joseph aber in dieser Sache selbst schwere Schuld auf sich geladen hat, dass er sich tatsächlich mit böswilligem Vorsatz auf schändlichste Weise die Ehe mit der keuschen Jungfrau erschleichen wollte, die ihm zur Obhut anvertraut worden ist, und der HERR ihm dies als ein schweres Vergehen anrechnen sollte, dass er – sei es nun mit oder ohne der ihm anvertrauten Magd – vom Fluch-Wasser inwendig aufgezehrt wird, so würde aber auch dann den Zacharias nicht zwingend irgendeine Schuld treffen, denn er hätte dem Joseph schließlich doch nur die Bürde auferlegt, welche das Gesetz in solchen Fällen verlangt und vorschreibt, wenn jemand einer Jungfrau ihre Keuschheit raubt, dass er sie dann auch heimführen und zur Frau nehmen muss, um sein Leben lang für sie Sorge zu tragen.

Und Zacharias hätte in allem nur dem Gesetz entsprochen – auch wenn der HERR urteilen würde, dass das Vergehen des Joseph mehr als nur ein verzeihlicher Fehltritt war, so dass Er ihn nunmehr durch das Wasser der Eifersucht einer schwereren Bestrafung zuführt.

Darum bin ich der Meinung: Wie auch immer der HERR über diese beiden urteilen wird, so ist damit noch keineswegs irgend ein Vergehen erwiesen, dessen sich Zacharias in diesem Zusammenhang schuldig gemacht hätte!

Und auch, wenn dies Schande über sein eigenes Haus brächte, wenn seine eigene Nichte tatsächlich der Hurerei schuldig geworden ist, so wäre er selbst damit noch keinerlei Mitwisserschaft überführt, dass er hier irgendetwas vertuschen oder verschleiern wollte, damit sein eigener Ruf nicht in Mitleidenschaft gezogen würde.

Denn Zacharias ist allgemein als ein ehrenwerter Rats-Herr und gottesfürchtiger Priester bekannt, dem man großes Unrecht täte, wenn man ihn einer Schuld bezichtigen würde, die nicht erwiesen werden kann. Er wäre meines Erachtens dann schon mehr als ausreichend dadurch gestraft, dass er die Schande seiner Nichte zu tragen hat.“

Schammai dagegen sah die ganze Angelegenheit freilich wieder kritischer: „UND DOCH! Und doch hätte die Mitwisserschaft des Zacharias dann doch ein gewisses G´schmäckle und scheint nicht ganz koscher zu sein, da er auch nicht einen einzigen aus unseren Reihen in den Vorfall eingeweiht hat! Ich meine, man sollte ihn dann doch zumindest der höherem Ämter entbinden, die ihm anvertraut worden sind, solange seine Unschuld und Lauterkeit in dieser Hinsicht nicht eindeutig und zweifelsfrei erwiesen ist!“

„Zumindest“, stimmte der Hohepriester zu, „sollte man den Zacharias vielleicht wenigstens vorerst all seiner Ämter und Pflichten entbinden, was sich auch durchaus damit begründen lässt, dass man ihm die Bürde all seiner verantwortungsvollen Aufgaben ersparen will, solange er um das Leben seiner geliebten Nichte fürchten muss.

Wenn Gott, der Höchste, dann aber Sein Gericht an diesen beiden vollzogen hat, bin ich gewiss, dass Er uns auch bezüglich des Zacharias weisen wird, wie dieser zweifelsfrei seiner Schuld überführt werden kann oder aber seine Unschuld und Lauterkeit widerspruchslos offen-gelegt werden und sein fraglich gewordener guter Ruf wieder hergestellt werden kann. So lasst uns zunächst das Gottes-Urteil über diese beiden hier Angeklagten abwarten. Dann wird sich auch schon noch zeigen, wie das Verhalten des Zacharias in dieser Angelegenheit zu beurteilen ist.“

(V)

So wurde alles für die Reichung des Fluch-Wassers vorbereitet und Joseph und Maria wurden vor das Nikanor-Tor geführt, das ihnen über die hinaufführenden halbrunden Stufen einen Blick in den Vorhof der Priester vor dem Heiligtum Gottes gewährte.

Hannas aber, der sie verklagt hatte, wurde damit beauftragt, ihnen das Wasser der Verfluchung zu reichen. Und er nahm von den beiden das Speiseopfer, welches alle Schuld in Erinnerung rufen sollte, nämlich ein zehntel Epha Gerstenmehl, das sind etwa zweieinhalb Liter, entgegen, und trat hinauf vor das Haus des HERRN, um es dort zu schwenken, und brachte das Askara, den brennbaren Teil des Speiseopfers, auf dem Brandopfer-Altar dar – jedoch ohne Öl darauf zu gießen und keinen Weihrauch darauf zu legen, weil es ein Speiseopfer der Eifersucht war.

Danach nahm er Staub vom Boden vor dem Heiligtum und gab ihn in das Tongefäß mit dem heiligen Wasser und trat mit dem Krug zu den beiden auf die Stufen des Nikanor-Tors und sprach: „Ich werde euch nun das Prüfungs-Wasser des HERRN, dessen Name »Eifersucht« ist, zu trinken geben: Und wenn ihr euch gegen Ihn versündigt habt, so wird Er´s vor aller Welt Augen offenbaren!“

Danach hob er den Kelch zum Himmel und sprach: „Dies ist das Wasser der Eifersucht, das alle Schuld aufdeckt, das Wasser der Bitternis und Verfluchung für jeden, der seine Schuld verheimlicht. Seid euch klar darüber: Es gibt nichts Verborgenes, das nicht ans Tageslicht käme, und nichts Verstecktes, das der HERR nicht aufdecken würde! So habt ihr jetzt die letzte Möglichkeit, verheimlichte Sünden noch gestehen zu können, um dem Fluch dieses Wassers zu entgehen.“

Maria und Joseph tauschten kurz einen Blick aus und schwiegen. Also wandte sich Zacharias mit dem Fluch-Wasser zuerst an Maria, um die Fluch-Beschwörung über ihr auszusprechen: „Hat kein Mann bei dir gelegen und bist du nicht untreu geworden, dass du dich unrein gemacht hast, so soll dir dies bittere, fluch-bringende Wasser nicht schaden.

Wenn du aber untreu geworden bist, dass du unrein wurdest, und hat jemand bei dir gelegen, so mache der HERR deinen Namen zum Fluch und zur Verwünschung unter deinem Volk, dadurch, dass der HERR deine Gedärme aufquellen lässt. So gehe nun das fluchbringende Wasser in deinen Leib, um deine Schuld oder aber deine Unschuld aufzudecken!“

Mit dieser Beschwörung reichte der Priester Hannas der Maria den Becher; und sie nahm ihn entgegen und sprach: „Amen! So sei es!“, wie es das Gesetz vorgab, und trank.

Und in ähnlicher Weise wurde die Beschwörungs-Zeremonie auch bei Joseph durchgeführt: So wandte sich Hannas an den Joseph und erklärte: „Bist du keines Vergehens schuldig geworden, dass du dich nicht in schändlicher Form an dieser keuschen Jungfrau, die ganz dem HERRN versprochen war, vergangen hast, und auch keinen strafwürdigen Treuebruch ihrerseits zu vertuschen und zu verheimlichen suchst, welchen sie begangen hat, so wird dir dies bittere, fluch-bringende Wasser nicht schaden.

Wenn aber doch, so mache der HERR deinen Namen zum Fluch und zur Verwünschung unter deinem Volk, dadurch, dass der HERR deine Gedärme aufquellen lässt. So gehe nun das fluchbringende Wasser in deinen Leib, um deine Schuld oder aber deine Unschuld aufzudecken!“

Mit dieser Beschwörung reichte der Priester Hannas ebenso dem Joseph den Becher; und Joseph nahm ihn entgegen und sprach: „Amen! So sei es!“ und trank.

Und die beiden wurden auf Geheiß des Hohenpriesters Simon Ben Boethos hinunter zum Toten Meer geführt, in die einstige Siedlung der Essener, die bis auf wenige leer-stehende Lehmbauten durch ein Erdbeben und einen Brand gänzlich verwüstet war. Dort sollten sie eine Woche unter der Aufsicht abgestellter Tempel-Wachen verbleiben. Und sie sollten auch ausreichend mit Wasser und Nahrung versorgt werden, damit es augenscheinlich ausschließlich dem Prüfungs-Wasser zuzuschreiben war, wenn sie von Blähungen unter großen Schmerzen dahin-gerafft worden wären.

(W)

Doch siehe, als die sieben Tage verstrichen waren, kehrten sie beide völlig unversehrt nach Jerusalem zurück. Und alle Mitglieder des Hohen Rates wunderten sich, dass keine Sünde an ihnen zum Vorschein gekommen war. Denn noch immer hatten sie keine Antwort auf die Frage, wie denn nun jene keusche Jungfrau Maria, welche der Obhut jenes Zimmermanns aus Galiläa unterstand, zu ihrem Kind gekommen war.

Hillel aber erklärte: „So hat sich ganz offensichtlich meine erste anfängliche Vermutung bestätigt, dass jenes unbefleckte Mädchen wider ihren Willen von irgendeinem Unhold Gewalt angetan worden ist; und Joseph, der um die große Tugendhaftigkeit und tiefe Frömmigkeit jener in sein Haus genommenen Jungfrau wusste, hat sich erbarmt, sie zu Frau zu nehmen, damit ihr Kind einstmals nicht vaterlos als der unzüchtig gezeugte Bastard eines gottlosen Sünders aufwachsen müsse. Und der Priester Zacharias hat sich bereit erklärt, die Trauung zu vollziehen, die in diesem Fall auch keinen Gelübde-Bruch darstellte, sondern ein Akt bewundernswerter Barmherzigkeit war.

So sind sie alle drei, sowohl Maria, als auch Joseph, sowie auch der Priester Zacharias, gänzlich frei von Schuld, wie die göttliche Prüfung vor aller Welt Augen offen-gelegt hat. Und überdies haben sich sowohl Joseph, wie auch Zacharias äußerst löblich verhalten.

Was aber ihre Aussagen bei unserer Befragung betrifft, so hat die junge zarte Maid Maria offensichtlich ihr furchtbares Erlebnis noch nicht verarbeitet und es darum verdrängt, dass sie noch immer nicht fassen kann, was ihr angetan worden ist.

Joseph aber hat es nicht offenlegen wollen, dass das Kind, das er als das Seine annehmen will, die Zeugung eines Hurers ist, um diesem Kind später nach Möglichkeit jede Ächtung zu ersparen. Da er aber lauter und wahrheitsliebend ist, konnte er auch nicht erklären, er selbst sei der Vater dieses Kindes.

So hat sich nun am Ende doch noch alles in Wohlgefallen aufgelöst! Und das Erfreulichste dabei ist, dass wir nicht irgend eine Sünde ahnden und schwer bestrafen müssen.“

Nach einer kurzen Beratung ließ man dann schließlich Maria und Joseph in den Versammlungsraum des Hohen Rates führen. Und Simon Ben Boethos, der Hohepriester, erklärte: „Nachdem der HERR euch nicht gerichtet hat, richten wir euch auch nicht. Denn wie könnten wir verurteilen, welche der HERR von Sünde freispricht!“

Und mit diesen Worten entließ er sie – jedoch nicht, ohne einen strengen, vorwurfsvollen Blick zu Hannas hinüber zu werfen, der mit seinen haltlosen Verdächtigungen diesen ganzen Prozess in Gang gesetzt hatte, welcher schließlich auch enthüllt hatte, wer im Sanhedrin dem Zacharias sein hohes Ansehen beim ganzen Volk neidete und seinen Aufstieg zum höchsten hohenpriesterlichen Amt fürchtete.

Hannas aber knirschte mit den Zähnen, da er Zacharias keinerlei Schuld überführen konnte, sondern diesem vielmehr durch ein göttliches Urteil dessen absolute Lauterkeit und Unbescholtenheit bestätigt wurde.

Dies aber schädigte wiederum im Gegenzug den Ruf des Schriftgelehrten Hannas, der zu Unrecht gegen Zacharias opponiert und ihm im Laufe dieses Verfahrens niederträchtigste Beweggründe und Vorgehensweisen unterstellt hatte.

Dies aber sollte sich für Simon Ben Boethos später noch als äußerst vorteilhaft erweisen. Denn damit war das Ansehen des Emporkömmlings Hannas geschwächt worden; und so blieb die hohepriesterliche Würde noch für viele Jahre an die Familie des Boethos gebunden, ehe es Hannas gelang, diese doch noch an sein Haus zu bringen.

(X)

Freilich hatte der Hohepriester dem Joseph auch die Weisung gegeben, dass er die beabsichtigte Vermählung mit Maria nun auch wirklich noch vollziehen müsse. Und diese wäre schon längst vollzogen worden, wenn Joseph und seine Anverlobte nicht noch für eine Woche in die Wüste hätten ziehen müssen, um dort die Wirkung des Wassers der Prüfung abzuwarten.

Die Vertrauten des Joseph, die zur Hochzeit ins Haus des Zacharias geladen wurden, waren bereits längst eingetroffen – nämlich Amas, Isaak, Judas und Jakob – angesehene Mitglieder des Ältestenrates von Nazareth, die des Josephs engsten Freunde waren, so dass er sie ins Vertrauen über die wundersame Heimsuchung Gottes ziehen konnte, sowie Lazarus, Asterius, Antonius, Zeras, Samuel, Phinees, Krispus und Agrippa – Jugendfreunde des Joseph aus Bethlehem, die vor vielen Jahren mit Alphäus, dem jüngeren Halb-Bruder des Joseph, nach Emmaus umgesiedelt waren, als Joseph sich in Nazareth niederließ.

Nachdem aber Zacharias für die Zeit, in welcher das Gottes-Urteil über seine Nichte und deren Hüter, abgewartet wurde, von seinen Aufgaben im Tempel freigestellt und erneut von seinem Gehilfen, dem Priester Samuel, vertreten wurde, konnte er die Hochzeitsgäste in seinem Hause hinreichend bewirten.

Diese aber begaben sich Tag für Tag in die Synagoge von Bethanien und tauschten sich anhand der dort befindlichen Schriftrollen über all die Prophezeiungen aus, welche sie in ihrem persönlichen Studien in ihren Heimat-Dörfern, Emmaus und Nazareth, bereits gefunden hatten, welche ihnen bestätigt hatten, dass der Messias einstmals tatsächlich göttlicher Abkunft sein müsse, genau so, wie es der Engel des HERRN dem Joseph enthüllt hatte.

Und sie priesen Gott voller Freude, denn sie erkannten: „Fürwahr, bei all den vielen schillernden Prophezeiungen, die uns über die Ankunft des Messias gegeben worden sind, haben sich alle diese Verheißungen in einer so außerordentlich wunderbaren Weise erfüllt, dass keiner es jemals zu hoffen gewagt hätte, dass sich all diese Ankündigungen wahrhaftig in der denkbar großartigsten Form erfüllen würden, die all unsere hehrsten Hoffnungen und Erwartungen um Unendlichkeiten übersteigt: dass wahrhaftig Gott selbst Einkehr halten würde unter uns als einer wie von Unseresgleichen, sichtbar und hörbar und berührbar und betastbar, empfindsam und verletzlich, gleich wie wir, um uns alle einstmals mit sich aus unserem niederen Elend hinauf zu führen in Seine unbeschreibliche Herrlichkeit!“

(Y)

Außerdem beteten die zwölf zur Hochzeit geladenen Zeugen zusammen mit Zacharias und seiner Frau auch unablässig für das Wohl von Joseph und Maria, die der Prüfung durch das Fluch-Wasser unterzogen worden waren, bis diese nach eine Woche gänzlich unbeschadet und unversehrt ins Haus des Zacharias zurück-kehrten.

Welche Freude aber erfüllte alle, als Maria und Joseph freigesprochen von aller Schuld im Gebirge Judas ins Haus des Priesters Zacharias in Bethanien vor Jerusalem einzogen! Und gleich am darauf-folgenden Tag vermählte Zacharias förmlich den Joseph mit der ihm anvertrauten Verlobten Maria vor den geladenen Zeugen.

Und der Geist Gottes kam bei der Trauungs-Zeremonie über den stellvertretenden Hohenpriester, so dass er weissagte: „So ist nun doch noch unanfechtbar der Spross Aarons zum Hause Davids gekommen, auf dass aller Welt ersichtlich würde, dass hier Jener geboren wird, in welchem sich das ehrwürdige Königtum und unvergleichliche Hohepriestertum des Ewigen verbindet und vereint: kein anderer, als der Messias, der Verheißene und Gesalbte Gottes, der keineswegs durch Unzucht oder Ehebruch noch durch einen Gewaltakt an einer Unschuldigen, noch durch einen Gelübde-Bruch des Hüters jener unbefleckten keuschen Jungfrau geworden ist, sondern aus ihr selbst und allein als der »Frauen-Same«, durch ein Wunder aus den Himmeln selbst.

Von dort ist Er zu uns hernieder-gestiegen, um als ein Mensch von Unseresgleichen geboren zu werden, um für uns alle die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen, wozu wir nicht in der Lage waren. Und Er wird so wahrhaft einer von uns: der Letzte aus uns, auf dem darum unser aller letzte Hoffnung liegt; und Er wird uns so noch zum Ersten werden, weil Er uns alle, unser ganzes Menschengeschlecht, noch rechtfertigen und freikaufen wird aus Tod und ewiger Verdammung – für den, der uns alle von Ewigkeit her nach dem unfehlbaren Ratschluss Seiner untrüglichen Vorkenntnis, noch alles für wahrhaft alle unüberbietbar vollkommen hinaus zu führen, zum Heil und zu ewiger glückseliger Gotteskindschaft berufen hat, dass wir´s alle in Ihm, dem EINEN aus uns und für uns, noch finden und erlangen sollen:

in jenem EINEN, welcher über allen ist und doch unter uns selbst einkehren und werden wollte, als was Er sich selbst ewig in sich selbst vorfindet: unser aller Retter-Gott und Erlöser-Christus und Heiland – nicht allein aber für uns, die wir´s schon sehen und erkennen und bestaunen dürfen, sondern wahrhaft für ausnahmslos alle – von allen Wesen und Kreaturen in allen Regionen und Welten und Sphären, wie unsäglich tief sie auch immer gefallen sein mögen!

Du, Maria, aber bist gewürdigt, Ihm, den Unaussprechlichen für uns alle auszutragen und uns zu bringen; und du, Joseph, Ihn zu erziehen nach der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unseres HERRN und Gottes – als deinen Sohn. Dafür wird euch gebenedeit werden in alle Ewigkeit!“

(Z)

Dies aber waren die zwölf vom HERRN bestellten Zeugen, dass Maria und Joseph keines Mein-Eids überführt werden konnten, sondern durch das Urteil Gottes, des Höchsten, selbst in ihrem Zeugnis bestätigt wurden, dass der Christus Gottes nicht aus irgendeinem unzüchtigem fleischlichen Verkehr hervorgegangen ist, und dass somit der ganze Hohe Rat Israels bestätigen musste, dass das unabhängig voneinander bei eingehender Befragung abgelegte Zeugnis Seiner beiden Eltern nach dem Fleisch wahr ist, dass Jener nicht von irgendeinem Manne kam und gezeugt wurde, sondern durch ein Wunder Gottes in diese Welt eingeführt wurde – denn Seine Ursprünge sind von allen Ur-Anfängen und den Tagen der Ewigkeit her, unmittelbar aus Gott selbst.

Und diese sind es, die dies bezeugten; und wer sie gekannt hat, der kann bestätigen, dass sie von untadeligem Ruf und lauterster Frömmigkeit waren – nämlich: Amas, Isaak, Judas und Jakob, die alle vier angesehene Mitglieder des Ältestenrates von Nazareth waren, sowie Lazarus, Asterius, Antonius und sein Bruder Zeras, sowie die Gebrüder Samuel, Phinees, Krispus und Agrippa, welche Jugendfreunde des Joseph in Bethlehem waren und mit dessen jüngeren Bruder Alphäus in Emmaus wohnten – nämlich jenem Kleopas, welchem der Herr nach Seiner Auferstehung auch selbst leibhaftig, betastbar erschienen ist.