Syn-Evangelium
(Roman-Fassung)

Das großartige Evangelium des vollkommenen Lebens
im Schatz der unverlierbaren Liebe Jesu Christi

I Die Anfänge

(A)

Dies ist die Geschichte Marias, der jungfräulichen Mutter des Herrn.

Siehe, in den Tagen des Herodes, den man den Großen nannte, des Königs von Judäa, Galiläa und Samaria, lebte in der Heiligen Stadt Jerusalem nördlich des Tempels, unterhalb des Schaftors, nahe am Teich Bethesda, oberhalb des Schafmarktes ein frommer und gerechter Mann mit Namen Joachim aus dem Haus und Geschlecht des David und seine Frau Anna, eine Davidin der Erbfolge nach, jedoch – aufgrund einer Levirats-Ehe in ihrer Ahnentafel – zugleich auch eine der Töchter Aarons, die miteinander aufgrund ihrer großen Frömmigkeit mit hohem Reichtum gesegnet waren.

Allein mit einem wurde jenes Paar nicht gesegnet, was diese beiden, Joachim und seine Frau Anna, sich aber eigentlich mehr gewünscht hatten als alles andere, wofür sie gerne auch all ihr Vermögen eingetauscht hätten und wofür sie zahllose Jahre zum HERRN gefleht hatten, bis aufgrund ihres vorgerückten Alters keine Hoffnung mehr bestand: nämlich Kinder.

Dessen ungeachtet brachte der fromme Joachim alle seine Gaben im Tempel des HERRN stets doppelt dar. Denn er sagte sich selbst, wie auch seiner Frau: „Wir müssen dem HERRN bei allem doch dankbar sein, dass wir mit allem anderen so überreich gesegnet sind, auch wenn uns unser sehnlichster Wunsch nach Kindern versagt geblieben ist. Denn steht es uns an, mit dem HERRN über das zu hadern, was uns versagt geblieben ist, wo Er uns in allem anderen so überreich gesegnet hat?! Denn wir haben ja in allem anderen überreichen Segen empfangen und in sonst allem mehr als genug! Da wir aber kinderlos geblieben sind: Für wen sollten wir unser Vermögen halten?! So wollen wir dem HERRN in Dankbarkeit von dem auch mehr zurück-geben, womit wir überreich gesegnet worden sind!“

So brachte jener fromme davidische Fürst Joachim, trotz des unerfüllt gebliebenen sehnsüchtigen Wunsches nach einem Kind, doch, aus Dankbarkeit für alle anderen überreichen Zuwendungen des HERRN in sonst jeder Hinsicht, freiwillig alle seine Gaben im Tempel des HERRN stets doppelt dar, indem er sich sagte: „Denn selbst, wenn ich auch gerecht erfunden werden würde vor den Menschen: Was ist das vor dem HERRN, der in die Tiefen der Herzen blickt und doch alle Abgründe kennt und erschaut?! Darum will ich auch mehr geben, als das Gesetz mir vorschreibt, da ich mit Gütern so reichlich gesegnet bin, um dem HERRN durch meine Gaben sowohl meine große Dankbarkeit, sowie auch meine tiefe Reue über all meine Übertretungen in Gedanken, Worten und Werken zu zeigen, um durch die täglichen Opfer im Tempel, die durch unser aller Abgaben dargebracht werden, Sühne für mich und meine Frau und Vergebung aller unserer Sünden zu erwirken. Denn es ist ja schon nichts als Gnade, dass wir durch die Darbringung von stellvertretenden Sühne-Opfern als Anzeichen unserer tiefen Reue Vergebung bei Gott dem HERRN erlangen können!

Und auch, wenn wir, ich und meine Frau, uns mühen, den Willen des HERRN in allen Stücken zu erfüllen: Was wissen wir schon über unsere verborgenen Sünden in den trotzigen und verzagten Anwandlungen unserer Herzen, die vielleicht noch schwerer wiegen als das, was wir auch in die Tat umsetzen und – unser eigentliches sündhaftes Wesen offenbarend – ans Licht bringen?!

Sollten meine Gaben aber doch größer sein als meine und meiner Frau Verfehlungen, so möge es dem ganzen Volke zu gute kommen, dass der HERR dafür auch anderen Gnade erweisen möge! – sei es, durch die täglichen Sühneopfer im Tempel für alles Volk oder aber, durch die Speisung der Armen, Witwen und Waisen aus dem Überschuss des Tempelschatzes.“

Überdies aber hoffte Joachim freilich – zumindest in früheren Jahren noch – darauf, durch sein Übermaß an Gaben den HERRN milde stimmen zu können, ihnen vielleicht doch noch ein Kind zu schenken, bis ihm das Opfern des Doppelten zu einer Gewohnheit geworden war, als schon die Hoffnung auf ein Kind in beiden vollends erloschen war.

Überdies hatte Joachim verfügen lassen, dass der Großteil seines Vermögens, bis auf einen Teil, welchen er seinen und seiner Frau Verwandten zukommen lassen wollte, einstmals, nach ihrem Ableben, dem Tempelschatz zukommen sollte – mit der Auflage, dass das Geld ihrer veräußerten Güter in Zeiten der Not den Witwen und Waisen Israels zugute kommen sollte. Denn er sprach zu seiner Frau: „So wollen wir, nachdem wir ohne Kinder sind, von dem, womit wir überreich beschenkt worden sind, auch überreich dem HERRN zurück-geben, für all die Waisenkinder, die keine Eltern haben.“

Und Joachim suchte sich damit zu trösten, dass, wenn er seine Besitztümer schon keinen eigenen Nachkommen als Mitgift hinterlassen konnte, es auf diese Weise wenigstens den Bedürftigsten unter den Kindern Israels zugute kommen würde. Denn er sagte sich: „Auch wenn mein eigener Name ausgelöscht werden wird aus den Geschlechtsregistern der zwölf Stämme Israels und mein Haus aussterben mag mit mir: so bleibt doch das Haus Israel, dem auch meine Familie angehört, dennoch nach der Verheißung des HERRN auf ewig bestehen.

Wer aber bin ich, dass ich fordern könnte, dass darin auch mein eigener Name fortbestehen bliebe im Buch des Lebens?! Ich bin ja doch nur ein für sich unbedeutendes, winziges Glied in der Nachkommenschaft Israels, dem durch die unerfindliche Gunst des HERRN schon die Gnade zuteil werden durfte, in dieses von Ihm vor allen Völkern gesegnete heilige Geschlecht hinein-geboren worden zu sein! So mag denn mein Name für immer vergehen: es bleibt ja doch über allem der Name Israels bestehen! – und in ihm das Heil und der Segen für alle Welt!“

(B)

Es geschah nun aber einmal zum großen Festtag der Danksagung und Erhebung, als die jährlichen Abgaben für den beständigen Opferdienst im Tempel erhoben wurden in der Zeit der dritten Ernte, als alle Kinder Israel ihre Opfergaben im Haus des Herrn darbrachten, da kam auch Joachim mit seiner gewohnt überreichen Dankes-Spende. Und wie immer war er überdies der erste, der sie darbringen wollte – jedoch nicht, um sich hervor zu tun, sondern aus seiner tiefen Dankbarkeit gegenüber dem HERRN, dass er trotz seiner Verfehlungen so reich mit Gütern gesegnet war.

Da trat allerdings ein Priester mit Namen Rubim an ihn heran, der dem Joachim seinen Reichtum neidete, und sprach zu ihm: „Was berechtigt dich, immer als erster deine Gabe darzubringen?! Hältst du dich etwa für etwas Besseres vor dem HERRN, da du mehr zu geben hast, als alle anderen?! – und weil du nicht nur mehr zu geben bereit bist, als notwendig ist, sondern überdies auch immer der erste sein musst, der Gott durch sein Dankopfer Ehrerbietung erweist!

Meinst du, du könntest Gott, den HERRN, oder aber auch uns, Seine Priester, deshalb über deine versteckten Sünden hinwegtäuschen?! Denn es muss ja einen Grund haben, dass Gott dich keiner Nachkommen würdigt, so dass dein Name auf ewig ausgelöscht werden wird aus dem Buch des Lebens und dir die Hoffnung versagt bleibt auf eine Wiedergeburt in den Schoß Israels hinein im dritten oder vierten Glied!

Oder meinst du, du könntest dich freikaufen für deine verdeckten und versteckten Sünden?! – die uns zwar verborgen bleiben mögen, aber keineswegs dem HERRN! So zeige die Demut, welche dir besser anstünde, und reihe dich bei den Letzten ein, die mittellos sind und niemals aufbieten könnten, was die Menge ihrer Sünden tilgt! Du hast keinen Anspruch darauf, hier immer als der Erste zu erscheinen, um deine Opfergabe darzubringen, weil du keine Nachkommenschaft für Israel geschaffen hast! So schließe dich hinten bei den Letzten an!“

So kränkte und verletzte jener Priester Rubim durch seine öffentliche Schmähung den demütigen Joachim aufs Allertiefste; denn er hatte dem gerechten Joachim mit seinem Urteil, mit welchem er ihn schuldig sprach und gleichsam verdammte, großes Unrecht getan! Damit traf den armen alten Joachim über den Schmerz, kinderlos geblieben zu sein, nun auch noch die öffentliche Ächtung und Schmach!

(C)

Und Joachim wurde sehr betrübt: nicht allein, weil solche Schimpf und Schande über ihn gekommen war, sondern vor allem wegen des dadurch neu entbrannten Schmerzes, mit Kinderlosigkeit gestraft worden zu sein. Und er begab sich in das große Archiv in der Heiligen Stadt, in welchem die Ahnentafeln aller Geschlechter Israels niedergelegt waren, um Einsicht zu nehmen in die Schriften des Zwölf-Stämme-Buches Israels. Denn zu dieser Zeit hatte Herodes, der Große, die Geschlechtsregister noch nicht verbrennen lassen, um zu verschleiern zu suchen, dass er nicht jüdischer Abkunft, sondern ein heidnischer Idumäer war.

So begab sich Joachim an den Ort der Stammtafel-Sammlung mit dem Gedanken: „Ich will doch einmal die Verzeichnisse der zwölf Stämme Israel durchforsten und erkunden, ob ich wirklich ganz allein unter den Gottesfürchtigen bin, dem trotz allen Mühens um einen rechten Wandel keine Nachkommen geschenkt worden sind.“ Und er suchte nach einem Gerechten, welchem – wie ihm – trotz seiner Frömmigkeit und Gott-Ergebenheit dennoch kein Nachkomme geschenkt worden war, welchen der HERR ihm erweckt und geschenkt hätte. Doch fand er nicht einen einzigen, welcher nach seiner Einschätzung ein wahrer gottesfürchtiger Mensch gewesen war, welchem Gott nicht eine Seele als Nachkommen aus den Tiefen des Scheols hätte auferstehen lassen.

Da wurde Joachim über alle Maßen betrübt, dass ihm regelrecht zum Sterben war. Und er begab sich in die Wüste Juda zum Wadi Qelt, oberhalb von Jericho, nahe der Grotten von Kosiba, wo auch fromme Essener als Einsiedler lebten. Dort schlug er ein Zelt auf und fasste den festen Entschluss: „Ich will weder essen noch trinken, bis der HERR, mein Gott, mich gnädig heimgesucht hat! – und sei es auch nur, dass Er mir enthüllt, warum solch hartes Los uns betroffen hat, kinderlos bleiben zu müssen! Wenn wir uns in irgendeiner Weise schwer versündigt haben, so möge Er es mir offenbaren.

So soll allein Seine Nähe mir noch Trank und Speise sein, bis Er sich meiner erbarmt und mir Antwort gegeben hat! Wenn aber nicht, so mag ich hier in der Wüste sterben! Denn was soll ich noch meinen Leib nähren, wo meine Seele so unsäglich verschmachtet bis zum Tode hin?! Will der HERR mir Tröstung, Trank und Labsal sein, dann gut. Wenn aber nicht, so mag ich um meiner Sünden willen sterben und Sein Urteil empfangen! Doch will ich zum HERRN flehen, dass Er mir wenigstens kundtut, warum!“

(D)

Als Joachim sich in die Wüste begab, da war er einfach gegangen. Denn seine Seele war unendlich betrübt bis zum Tode hin! So hatte er sich nicht einmal von seiner Frau verabschiedet, obwohl er sie innig liebte! Und auch keinem seiner Knechte hatte er es kundgetan, dass er in die Einöde ziehen wolle, um Antworten zu finden, und dort, wenn der HERR sich seiner nicht erbarmen würde, auch sterben zu wollen. Denn der Schmerz lastete so schwer auf seiner Seele und auf seinem Gemüt, dass er unversehens, als es ihm nicht länger erträglich war, einfach aufbrach, ohne sich auch nur im Stande zu sehen, sich zu erklären und Abschied zu nehmen.

So war Anna, seine Frau, freilich voller Sorge, als ihr Mann nicht zur gewohnten Zeit nach Hause zurückkehrte; und niemand wusste etwas über seinen Verbleib. Als sie jedoch nachzuforschen begann, brachte sie in Erfahrung, dass er die letzten Tage vor seinem Verschwinden in den Archiven Jerusalems verbracht hatte, sowie, was sich am Tag der Erhebung zugetragen hatte, dass er vom Priester Rubim öffentlich geschmäht worden war und mit seinen überreichen Opfergaben abgewiesen worden war, weil auf ihm die Schande der Kinderlosigkeit lag. Da wusste sie, dass ihn sein gebrochenes Herz hinfort getrieben hatte über dem Leid, an welchem sie beide schon ein Leben lang zu tragen hatten und wofür sie nunmehr über allem auch noch geschmäht und verachtet wurden.

So beschloss auch Anna, nichts mehr essen zu wollen, bis sie denn irgendetwas über den Verbleib ihres Mannes in Erfahrung gebracht hätte. Und ihrem Gesinde gelang es allein, sie dazu zu bewegen, wenigstens Flüssigkeit zu sich zu nehmen. So vergingen fünf Wochen, aber ihr geliebter Gatte kehrte nicht zurück und ebenso hatte auch niemand ihn irgendwo gesehen. Da begann Anna zu verzweifeln; denn sie sagte sich: „Wenn er in die Wüste gezogen ist, um Antwort von Gott zu erhalten, so wird er dort am Ende verstorben sein und nimmermehr zurück kehren!“ Denn ihr geliebter Gemahl stand schon lange nicht mehr in voller Manneskraft, sondern war bereits alt und hochbetagt, so dass Anna fürchtete, er habe diese sich selbst auferlegten Strapazen wohl nicht überlebt.

So sah sich Anna schon als Witwe, und ihr Herz war doppelt gebrochen: einmal darüber, dass sie ihrem Mann keine Kinder hatte schenken können, was ihr schon ihr Leben lang schwer zu schaffen machte, nun aber, dass sie darüber, wie sie meinte, wohl auch noch ihren geliebten Gatten selbst verloren hatte, dem jeder Lebensmut über seinen tiefen Kummer verlassen hatte, so dass er ohne Abschied in die Wüste gegangen war, um dort zu sterben. Da war auch der Anna nur noch nach Sterben, dass sie selbst allein unter größten Mühen dazu bewegt werden konnte, wenigstens etwas zu trinken.

Und Anna legte ihre Trauerkleider an, da sie keine Hoffnung mehr hatte, ihren geliebten Gatten jemals lebend wieder zu sehen, und ging hinaus in den Garten, um in der Abgeschiedenheit ihre Wehklage zu halten in ihren Seelenschmerz, der ihr schier das Herz zerriss; denn sie sagte sich: „So bleibt mir jetzt nur noch Wehklage über das mir versagte Kind und dem mir überdies auch noch genommenen Mann! Was will ich noch leben?! Klagen will ich hinfort, bis auch mich der Tod dahingerafft hat, wie meinen geliebten Gemahlen, der mich nun auch noch verlassen hat! Klage halten will ich: über meiner Kinderlosigkeit – und Klage über mein Witwen-Los, das mich über allem nun auch noch ereilt hat!“

Und sie begab sich hinunter ins äußerste Eck des Gartens, neben dem ein Bach vorbei hinunter zum Teich Bethesda floss. Da ließ sie sich unter dem Lorbeerbaum nieder, der dort stand, und wollte dort draußen im Garten in Wehklage verbleiben, bis auch sie sterben würde. Und sie war nicht mehr dazu zu bewegen, ins Haus zurück zu kehren, sondern verblieb Tag und Nacht in Wehklage unter dem Lorbeerbaum, der dort stand, neben dem Wasserlauf, der zum Teich Bethesda hinunter führte.

Dort stimmte jene Anna, doppelt gebrochen, eine zweifache Trauerweise an und wehklagte vor dem HERRN: nicht allein nur über das vorenthaltene, so unendlich lang vergebens so sehnlichst begehrte Kind, das sie in ihren Armen in den Schlaf wiegen wollte, sondern überdies über ihren über allem nun auch noch verloren geglaubten geliebten Mann, der, wie sie sich sicher war, inzwischen über seinem Kummer in der Wüste verendet war.

Und als sie zum Himmel schaute, sah sie ein Sperlingsnest im Lorbeerbaum. Da stimmte sie ihren Wehgesang an:

„Weh mir! Wer hat mich gezeugt, welch ein Mutterleib mich hervorgebracht?!
Denn als Fluch bin ich geboren vor den Kindern Israel
und bin mit Schimpf angetan,
und mit Spott haben sie mich belegt, verstoßen aus dem Tempel des Herrn!

Weh mir, mit wem kann ich mich vergleichen?!
Nicht einmal mit den Vögeln des Himmels kann ich mich vergleichen,
denn auch die Vögel des Himmels erben sich fort vor Dir, o HERR!

Weh mir, mit wem kann ich mich vergleichen?!
Nicht einmal mit den Tieren der Erde kann ich mich vergleichen,
denn auch die Tiere der Erde erben sich fort vor Dir, o HERR!

Weh mir, mit wem kann ich mich vergleichen?!
Nicht einmal mit diesen Wassern hier kann ich mich vergleichen,
denn auch diese Wasser entspringen unaufhörlich aus ihrer Quelle
und setzen sich ohne Ende fort vor Dir, o HERR!

Weh mir, mit wem kann ich mich vergleichen?!
Nicht einmal mit dem Erdreich, das doch nur Dreck ist,
kann ich mich vergleichen,
denn auch dieses Land bringt seine Früchte zu seiner Zeit
Dir zu Lob und Ehre, o HERR!”

(E)

Und so ging es zu, dass jene alte, gebrochene Anna unter dem Lorbeerbaum im Garten ihre Kinderlosigkeit und ihr Witwen-Los beweinte, bis der große Versöhnungstag des HERRN anstand. Und siehe, als Anna so in ihrer Trauer und Wehmut versunken war, da trat eine junge Magd zu ihr hinaus in den Garten, welche Joachim kurz vor seinem Verschwinden noch neu eingestellt hatte. Deren Name war Judith. Die begab sich zu Anna hinaus und suchte, sie zu trösten, indem sie sich zu ihr setze und ihren Arm um ihre Herrin legte, und ihre Hand auf Annas Schulter. Und so saß jene Judith bei Anna drei Tage und drei Nächte lang, bis der große Jom Kippur heraufzog.

Dann aber sprach diese Judith zu ihr: „Liebe Herrin! Ist es nicht genug der Trauer und der Gram? Wie lange willst du deine Seele in sinnloser Trauer nieder beugen, die ja doch nichts ändern kann?! Habe doch Vertrauen in den HERRN! Und sei Ihm nicht länger gram!

Siehe: Wie viele Propheten waren kinderlos und zeugten doch mehr Nachkommen im Geiste in ihren Schülern und Nachfolgern, als je ein Mann in bester Manneskraft dem Fleische nach zeugen kann! So muss Kinderlosigkeit keineswegs einen Fluch bedeuten, sondern kann vielmehr auch ein Segen sein! Steht nicht geschrieben: »Gesegnet ist die Kinderlose! Denn sie hat gar vielmehr Kinder als die, welche einen zeugungsfähigen Mann hat!«?! Und ist es nicht ebenso mit euch? Wie vielen Waisenkindern haben doch eure überreichen Gaben ausgeholfen, die allein darum leben, weil ihr freigiebig ausgeteilt habt: eine Menge von Kindern, von denen ihr garnichts wisst!

Und sieh dir die vielen Essener an, die in freier, bewusster Wahl in Ehelosigkeit leben, sowohl auf dem Berg Zion, direkt vor euren Augen, sowie auch im ganzen Land! Sie alle verzichten auf Frau und Kind, auf eine Nachkommenschaft im Fleisch, um ihr Leben ganz dem Herrn zu weihen, da sie erkennen, dass die Zeit vorgerückt ist und das Reich Gottes schon nahe herbei gekommen ist, so dass sich unter ihnen selbst verheiratete Paare, wie sie überall im Heiligen Land zu finden sind, einander enthalten und kinderlos bleiben, um zu leben allein nur noch ganz für den HERRN! Und selbst viele Jungfrauen legen mittlerweile ein Gelübde ab, in Entsagung leben zu wollen und kinderlos zu bleiben, allen voran unter denen, die man die Chassidim, die frommen Essener, nennt!

Jene aber werden nicht, wie es euch ganz zu Unrecht widerfuhr, geschmäht für ihre Kinderlosigkeit, sondern wegen ihrer besonderen Weihe verehrt und besonders hoch geachtet im ganzen Land! Darum: Warum gebt ihr also etwas auf die Schmähungen solcher, die Gott nicht kennen, was immer sie vor dem Volk darstellen mögen?! Und was gibst du etwas auf den Hohn solcher Gottlosen, dass du dem falschen Zeugnis solcher Heuchler Glauben schenkst und meinst, der HERR hätte dich um irgendwelcher unerkannter Sünden willen verlassen und versäumt?!

Denn siehe: Der HERR liebt doch alle unbeirrbar in gleicher Weise, selbst die Undankbaren und Bösen, wie viel sie auch immer lästern und sündigen mögen! Wenn diese ausnahmslos alle, dann ganz gewiss auch dich! So hat Er auch dich weder jemals verlassen noch versäumt! Glaub es doch nur, lass dich trösten und lebe in diesem Zuspruch auf! Denn sehr wohl kann Kinderlosigkeit auch ein Anzeichen besonderer Weihe sein!

Und überdies liebt der HERR nicht allein die, welche gesegnet erscheinen in den Augen der Welt, sondern ebenso, auch und besonders die, welche außen vor zu stehen scheinen, welchen Er Prüfungen auferlegt, um sie auf diese Weise rückhaltloses Vertrauen zu lehren und ihren Glauben in ihrem Leid zu läutern, wie man Gold im Glutofen des Feuers läutert! So sieh es nicht als eine Ächtung und Verachtung des HERRN an, sondern vielmehr als eine Auszeichnung, wenn Gott dich für würdig erachtet, dich zu läutern wie ein edles Metall!

In solchem Vertrauen, dass dir wahrhaft alles zum Besten dienen muss – das, was dir böse erscheint, ebenso, wie das Gute: in solcher unbeirrbaren Herzensgewissheit könntest du aufleben und deine Trauerkleider ablegen und dir Freudenkleider anlegen, weil du dann erkennen und tief in deinem Herzen wissen würdest, dass der HERR, der dir so fern scheint, dir weit näher ist als in so manchen guten Tagen, die nicht selten zu Leichtsinn und Übermut verleiten, weil man sich der göttlichen Segnungen allzu sicher wähnt!

Hab doch Vertrauen in Ihn, dass Er dich immer in gleicher Weise liebt! – hinlänglich, ob Er dir etwas noch versagt oder schon gibt! Denn fürwahr: Der HERR, der ein gütiger Abba über alle Seine Wesen ist, liebt ein jedes Seiner kleinen Kinder immer in der selben Weise und gleich! – wie eine Mutter, die keines Ihrer Kleinen je verdammen könnte! – hinlänglich, durch was auch immer sie zu ihrer Reifung hindurch müssen!

So freue dich doch an dieser wahrhaft unverlierbaren Liebe, die dir in allem immer nur Gutes will! – auch in den Zeiten der Entbehrung, wo Glaube und Geduld von Ihr gestählt werden sollen, mehr noch als in den Zeiten, in denen es dem Augenschein, jedoch nicht immer unbedingt in Wahrheit, an nichts fehlt!

Und gar oft muss der HERR den Menschenkindern vieles, was sie für ihr Heil erachten und sich sehnlichst wünschen, zunächst versagen, um sie zu bereiten für dem Empfang von noch weit Größerem, Beglückenderem, das Er für sie bereit hält und ihnen von Ewigkeit her schon zugedacht hat!

So gräme dich doch nicht länger, sondern vertraue nur! Hadere nicht über den Prüfungen des HERRN, sondern freue dich vielmehr! Siehe, der große Versöhnungstag steht an! So lass doch auch du dich wieder versöhnen mit deinem Gott! Er will sich wahrhaft aussöhnen mit allen! Da darfst du doch nicht trauern, als würde dir dies nicht ebenso gelten, wie auch allen anderen! So beende deine Trauer, die doch nur zum Tode führt, sondern zieh vielmehr jetzt erst recht – entgegen allen finsteren Anwandlungen aus der dunklen Tiefen deiner Seele – Freudenkleider an in Vertrauen auf den HERRN, der dich, wie alle, liebt und auch dich ganz gewiss niemals verlassen und versäumen wird!“

Und Judith, jene Magd, die in dieser Weise die alte, gebrochene Anna zu trösten suchte, zog aus ihrem Gewand ein wunderschönes, wertvolles Kopfband, wie es Prinzessinnen tragen, und reichte es der Anna und sprach: „Sieh hier dieses wunderschöne Haarband: Das hat mir meine frühere Arbeitsherrin geschenkt, die sich von mir ebenso hat trösten lassen über ihren Schmerz! Ich will es nun dir schenken. Denn mir steht es ja ohnehin nicht an, es mir umzubinden, weil ich nur eine einfache Magd bin.

Doch sieh nur, wie edel jener Stirnreif ist! Er hat fürwahr königliches Gepräge! Den trage und erfreue dich daran, weil es dich nicht vergessen lässt, dass du dem höchsten HERRN, dem König aller Könige, bei allem doch eine geliebte Tochter bist! Denn bist du nicht doppelt gesegnet schon allein deiner Abkunft nach, da du nicht allein aus dem königlichen Geschlecht des David bist, der Erbfolge nach, sondern überdies auch noch aus dem priesterlichen Geschlecht des Aaron, deiner Zeugung nach?!“

Anna in ihrem tiefen Gram aber wollte sich nicht trösten lassen und winkte energisch ab: „Ach, was weißt du schon von meinem Kummer, du dummes, junges Ding! Du hast noch alles vor dir und kannst voller Hoffnung sein! Meine Hoffnung aber ist verwelkt, wie auch ich selbst mit den Jahren vergeblichen Flehens und Harrens! Für mich gibt es keine Hoffnung mehr! Für mich ist es längst zu spät!

Und dieses Los, das du so anpreist, das haben wir, mein Mann und ich, uns nicht selbst erwählt, sondern es wurde uns gegen all unser Sehnen und Flehen aufgezwungen, und, obwohl wir dem HERRN treu waren unser ganzes Leben lang, dennoch einfach auferlegt, ohne jeden ersichtlichen Grund! Und wo zeigt sich da denn, dass wir von Gott angesehen sind, wenn uns alle Welt über unserer Kinderlosigkeit verachtet?! Denn wer sich Kinder über alles wünscht, dem ist´s fürwahr der allerschlimmste Fluch!“

Judith aber ließ sich nicht beirren und legte der Anna das kostbare Haarband in den Schoß und sprach zu ihr: „Nimm es trotzdem! Vielleicht überlegst du es dir ja noch!“

Anna jedoch stieß das Kopfband hasserfüllt von ihrem Schoß und keifte ihre Magd an: „Geh! Bleib mir damit weg! Was will ich mit dem Ding?! Meinst du, dies könnte mich über meinen tiefen Kummer hinwegtrösten?! Freudenkleider soll ich anlegen?! Jubeln über die unablässigen Prüfungen des HERRN, die kein Ende nehmen wollen, sondern sich immerfort nur steigern?! Nicht nur, dass er mich verflucht hat, meinem geliebten Gatten keine Kinder schenken zu können! Nun nimmt Er mir über allem auch noch meinen Gemahlen, der an Kummer über seiner Kinderlosigkeit zugrunde geht!

Hat mich der HERR nicht schon genug gebeugt, dass ich auch noch deinen vermeintlichen Trost ertragen muss?! Am Ende hat dir irgendein verdorbener Bursche, mit dem du eine Liebschaft gehabt hast, dieses schmucke Stirnband geschenkt, und du bist mir nur geschickt worden, um mich in deine lasterhafte Sünde und Unreinheit mit hinein zu ziehen und mein Elend noch zu vollenden! Hinweg mit deiner falschen Tröstung! Und hinweg mit dir! Ich will dich nie mehr sehen! Lasst mir doch alle nur endlich meine Ruhe, dass ich wenigstens in Frieden über meinem Kummer sterben kann, nachdem der HERR mir wahre Lebensfreude unerbittlich versagt!“

Und Anna vergrub ihr verheultes Gesicht in ihren Händen. Judith aber, ihre Magd, welche sie mit ihren gut-gemeinten Trost so wirsch und verletzend abgewiesen hatte und über allem auch noch einer verheuchelten Lüge bezichtigt hatte, erhob sich und sprach zu ihr in strengem Ton: „Willst du nun, nachdem du keine Kinder gebären konntest, Gift und Galle gebären für den Rest deines Lebens aus deinem verbitterten Herzen, dass du darüber alle Tröstung verwirfst, welche die Gottheit dir so gern spenden wollte, wie eine Mutter ihrem geliebten Kind?!

Nun denn: Wenn dem denn so ist, dann ist dir fürwahr nicht zu helfen! Es ist nicht einmal nötig, dir Übel zu wünschen dafür, dass du der Seele, die dir aufhelfen will, voll Bitternis und Unglauben ins Gesicht spuckst! Denn du selbst verachtest ja schon alles, was dir aus der Hölle deines tiefen Kummers heraus helfen könnte! So vervielfachst du dir ja schon selbst mit deinem Hadern mit Gott deinen Kummer und Schmerz und raubst dir selbst alle Würde als einer geliebten Tochter des HERRN!

Würdest du aber standhaft bleiben bis ans Ende in unbeirrbarem Vertrauen in die Liebe deines HERRN zu dir: Fürwahr, so würdest du über allem Hohn und aller Schmach doch deine Würde bewahren, die der HERR dir zugedacht hat, um zu allerletzt noch im Angesicht all deiner Spötter beglückt lachen und frohlocken zu können, wenn sie alle beschämt würden über deiner Standhaftigkeit im Glauben und Vertrauen, das dir zugleich Labsal und Lohn sein würde und überdies auch niemals ohne Frucht bleiben könnte!

Erkenne doch, dass es dein Unglauben ist, der all dein Ungemach erzeugt! Denn hättest du wahres Vertrauen: Dich könnte nichts betrüben oder nur erschüttern! So aber?! Was wunderst du dich da noch über den Fluch, den du so hart auf dir verspürst, wo du selbst an nichts anderes glauben willst?! Und was anderes kannst du da auch noch erwarten, wo dein Herz so voll Trotz und Bitterkeit ist, dass es nichts als Gift und Galle hervorquellen lassen kann und offenbart, wie es in Wahrheit um deine Seele bestellt ist, der jedes wahre unbeirrbare Gottvertrauen fehlt! So wenn du dich als verlassen und versäumt erkennen willst, so soll, kann, wird und muss dir auch ebenso geschehen, ganz nach deinem Glauben! – oder besser wohl: Unglauben!“

Und mit diesen überaus gestrengen Worten des Tadels erhob sich jene Judith und wandte sich von Anna ab. Und Anna wurde fürwahr aufgerüttelt von diesen furchtlosen Worten der Schelte; denn sie verspürte, dass sie es nicht mit einer gewöhnlichen Magd zu tun haben konnte, sondern mit einer gänzlich Freien, allein der Wahrheit Ergebenen, einer Dienerin Gottes, des HERRN.

(F)

Doch siehe, als Anna, über diesen Worten zutiefst in ihrem Herzen getroffen, ihr Gesicht erhob, um jener Magd, die ihr so ungeniert einen Spiegel vorhielt, in die Augen zu schauen, da war jene Dienerin nicht mehr neben ihr und auch nicht mehr im Garten.

Da verzweifelte die hochbetagte, kinderlose Anna vollends. Denn jene Magd hatte ihr unverblümt das vernichtende Gottes-Urteil geoffenbart, dass sie jeden Glauben und jede Zuversicht verloren hatte, und in ihrem Hadern mit Gott aus ihrem tiefen Unglauben heraus ganz allein selbst dies Los heraufbeschworen hatte, dass ihre Seele in Höllenqualen lag. Und Anna jammerte und wehklagte hierüber nun ganz anders:

„Oh wehe mir! Was nur ist über mich gekommen?! – dass ich jene Magd, die es doch nur gut mit mir meinte und mir in meinem Kummer und Seelenschmerz schweigend und einfühlsam verstehend beistand drei Tage und drei Nächte lang, und mich trösten wollte mit ihrem Geschenk, jenem Stirnband, das für sie als einer mittellosen Magd doch von unendlich großen Wert gewesen sein muss, welches sie auch verkaufen hätte können, um sich damit andere, ihrem Stand gemäße Freuden zu bereiten: dass ich diesen Engel des HERRN, der mich doch nur aufmuntern wollte in meinem Kummer, so wirsch mit verletzenden Worten abgewiesen und von mir gestoßen habe!“

Und Anna bückte sich, um den Haar-Reif vom Boden wieder aufzuheben und seufzte voll Wehmut und Reue: „Fürwahr! Jene Magd hat recht geredet! Aus meinem Herzen quillt nur noch Gift und Galle! Alt und bitter und hartherzig bin ich geworden, verwelkt über meinem unaufhörlichen Hadern mit Gott! Jedoch allein darum, weil es mir von je her an wahren Gottvertrauen gemangelt hat, dass Er mich dennoch in allem annimmt und sucht und liebt! – wie vermeintlich fromme, rechtgläubige Menschen auch immer darüber urteilen mögen!

Jene Magd hat mir so großen, wahren Trost dargeboten! Doch ich habe ihn verschmäht und verachtet in meinem Hochmut und Wahn, selber besser zu wissen, was recht für mich ist und meiner Reifung dient! So hat mich wohl meine Kinderlosigkeit und mein Witwenlos ganz zurecht getroffen! Denn es hat mir vor Augen geführt, wie es wahrhaftig um meine Frömmigkeit bestellt ist! Sie ist so nichtig, wie ich selber es bin!“

Und Anna rief nach ihren Dienstboten und schickte sie nach jener Magd, dass sie vor sie trete. Doch ihr Gesinde meldete ihr, dass sie nicht auffindbar sei. Da fragte Anna: „Was ist mit ihren Habseligkeiten? Hat sie diese alle mit sich genommen und uns verlassen?“ Da sprachen die Diener: „Sie hatte nichts, bis auf das Stirnband in deinen Händen, das sie dir überlassen hat.“

Als Anna das hörte, war sie über die Maßen beunruhigt, und sandte ihre Bediensteten aus, sie sollten erkunden, welcher Herrin jene Magd zuvor gedient hatte, von welcher sie jenes Haarband geschenkt bekommen hatte, und wo diese Judith hingegangen sei. Doch als ihre Hausangestellten zurück kamen, konnten sie nur vermelden: „Wir konnten nichts in Erfahrung bringen: Weder, wo sie zuvor gedient hat, noch, wo sie hin gegangen ist.“

Da erschrak Anna zutiefst in ihrem Herzen und sprach zu sich: „Wer war es, der hier bei mir ausgeharrt hat in meinem Kummer und mich zu trösten versucht hat in meinem Schmerz?!“

Da erhob sie sich von ihrer Klagestätte mit der Kopfzierde der Judith in der Hand; und sie legte ihre Trauerkleider ab, wusch sich und salbte sich mit kostbarem Öl wie für die Hochzeitsnacht und zog ihre Brautkleider an und steckte sich den Stirnreif ins Haar.

Denn sie sagte sich: „Das soll meine rechte Buße sein: Ich will mich freuen in dem HERRN und dankbar sein für Seine Liebe, die mir unverlierbar gilt, was immer auch kommen mag, und mich üben in unbeirrbarem Vertrauen, dass alles recht und gut und heilsam ist, was immer Er mir auferlegt! Nie mehr will ich zweifeln an Seiner Güte und seinen besten Plänen auch für mich! Ja, das soll mir meine rechte Buße sein!“

Und in dieser neuen Gesinnung, geläutert durch die Scheltrede jener Magd mit Namen Judith, die sie von sich gestoßen hatte, ging Anna frisch gebadet und im Duft der erlesenen Öle, mit denen sie sich hatte salben lassen, und mit dem königlichen Kopfband im Haar wieder hinunter in den Garten unter den Lorbeerbaum.

Dort kniete sie nieder und betete: „Gott meiner Väter, die Du alle durch viele Prüfungen und Versuchungen hindurch geführt hast! Nicht mehr hadern und zweifeln will ich! Was immer Du für recht befindest: ob Du gibst oder versagst: ich will es dankbar annehmen aus Deiner Hand, ohne jeden Zweifel und schändlichen Glaubensdünkel, dass es sein könnte, dass Du mich verlassen und versäumt hast und nicht auch mich, wie alle, liebst!

Sollte ich nunmehr nicht allein kinderlos, sondern überdies auch als Witwe versterben, so sei´s drum: Ich habe es nicht besser verdient. Aber um des Kummers meines frommen Mannes willen und um deiner Ehre willen wider alle Spötter, die uns verhöhnen, die wir bei aller Unzulänglichkeit doch ganz auf Dich vertrauen, so weit es in unseren Kräften steht: Wenn Du es willst und es recht ist, so kannst Du auch jetzt noch unsere unzähligen Gebete erhören, obwohl wir schon alt und hochbetagt sind und nach menschlichem Ermessen schon längst über der Zeit!

Denn Dir ist wahrlich nichts zu groß und zu wunderbar oder unmöglich! So kannst Du Dich doch selbst auch jetzt noch meiner erbarmen und uns doch noch ein Kind schenken, wie Du auch Abraham in seinem hohen Alter, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, doch auch noch einen Sohn geschenkt hast und den unfruchtbaren Mutterleib seiner geliebten Sarah doch noch gesegnet hast, obwohl sie auch ebenso, wie ich, zuerst den Trost der Zusage deines Beiseins aus der Bitternis ihres Herzens heraus verlachte und verhöhnte.

Doch wie auch immer Du es für recht und angemessen befindest: Ich will mich in Dein Urteil fügen: Denn nun will ich wahrhaft glauben und darauf vertrauen, dass alles aus Deiner Hand im Letzten doch nur Segen aus Deiner unerfindlichen Liebe und Güte gegen uns alle ist.“

(G)

Und siehe, als die hochbetagte Anna so gebetet hatte, da wurde es licht über ihr; und die Herrlichkeit des HERRN umstrahlte sie. Denn ein Engel des HERRN erschien unversehens in gleißendem Licht vor ihr und sprach zu ihr. Und es hörte sich an wie der Schall eines Heerlagers und gleichwie Wasserrauschen: „Anna, Anna! Erhört hat der HERR deine Bitte und dich für würdig befunden, da du deine Unwürdigkeit erkannt hast.

So sollst du trotz deines hohen Alters noch empfangen, wie einst Sarah, und sollst gebären! Und fürwahr: Auf dass du schaust, was du nunmehr zu glauben gelernt hast: Deiner Leibesfrucht soll in aller Welt gebenedeit werden!

Denn du hast dich demütigen und zur Reue bewegen lassen durch die Schelte jener niederen Magd, welche, wie du wähntest, unter dir stand. Denn kein anderer als ich hat durch ihren Mund zu dir gesprochen. Letztlich aber auch nicht ich, sondern der HERR, dein Gott und Schöpfer und Vater selber, der dich durch sie und mich suchte in Seiner Liebe!“

Als Anna aber diese Worte der Gnade hörte, warf sie sich, über alle Maßen beglückt, vollauf zu Boden und gelobte: „So wahr der HERR lebt, der doch über allem mein Gott ist und immer bleiben wird – ein Gott, der mich anerkennt und ansieht: Wenn ich denn nun doch noch gebären darf trotz meiner Unwürdigkeit und meines Unglaubens: Ob männlich oder weiblich: Ich will es dem HERRN, meinem über alles geliebten Gott, als Gabe darbringen und zurück geben, und es soll ihm alle Tage seines Lebens nach Priesterart dienen!“

Da entschwand das Licht, und als Anna sich wieder von Boden erhob: Siehe, da war jener Engel verschwunden, ebenso, wie zuvor jene Magd mit Namen Judith, von welcher niemand wusste, woher sie kam und wohin sie entwichen war.

(H)

Joachim aber verweilte vierzig Tage und vierzig Nächte in der Wüste. Und obwohl er weder etwas aß noch trank, wurde er doch am Leben erhalten. Denn der HERR war mit ihm.

Und als er so vor seinem Zelt oberhalb des Wadi Qelt mit halboffenen Augen in Versenkung verweilte, da wurde er mit einem Mal gewahr, wie auf der anderen Seite der tiefen Schlucht des ausgetrockneten Wasserlaufes in weiter Ferne drei Pilger zu sehen waren, die sich hinunter in Richtung Jericho begaben.

Dann aber blieben jene drei Pilger auf der ihm gegenüber liegenden Anhöhe stehen und blickten zu ihm hinüber. Und Schauder erfasste ihn, denn sie blieben regungslos stehen und schienen ihren Blick nicht von ihm zu wenden. Da erkannte Joachim, dass es der HERR war und warf sich auf sein Angesicht.

Als er sich aber wieder aufrichtete: Siehe, da waren jene drei Pilger verschwunden, obwohl man weit ins Land hinein blicken konnte! Da erinnerte Joachim sich, dass in gleicher Weise der HERR auch schon dem Erzvater Abraham erschienen war, als Er ihm versprach, er würde trotz seines hohen Alters noch einen Sohn geschenkt bekommen, den Isaak, und dass in dessen Nachkommenschaft die ganze Welt gesegnet werden sollte, wie es schließlich auch kam: Denn Isaak war der Vater des Jakob, des Stammvaters des Volkes Israel, welches Gott sich erwählt hatte zu einem königlichen Priestergeschlecht im Mittlerdienst für alle Welt zu Ihm und Seinem Heil hin.

Und Joachim erschrak zutiefst in seinem Herzen und warf sich erneut zu Boden und fragte: „HERR, willst Du mir mit diesem Gesicht zeigen, dass du auch mir ein Kind erwecken willst, dessen Sohn aller Welt das Heil bringen soll?“

Doch wiewohl Joachim keine Antwort erhielt, verweilte er fortan hoffnungsvoll im Gebet zu Gott hin, bis die Nacht hereinbrach und er die Herrlichkeit des HERRN am nächtlichen Sternenhimmel sah. Und er erinnerte sich, wie Gott dem Abraham aufgefordert hatte, seinen Blick hinauf zum Sternenfirmament zu richten und ihm sodann eröffnet hatte: „Blicke hinauf in die Himmel, in das unendliche Meer der Sterne! Kannst du sie zählen? So zahlreich soll einstmals deine Nachkommenschaft sein!“

Und siehe, als Joachim so in den nächtlichen Sternenhimmel blickte, da umstrahlte ihn mit einem Mal die Herrlichkeit des HERRN und ein übergewaltiger schwebender lodernder Engel erschien vor ihm in gleißendem Licht wie ein Blitz. Und jene feurige Gestalt sprach zu ihm: „Joachim! Joachim! Der HERR hat deine Bitte erhört und wird dein Ausharren belohnen! So mach dich auf und zieh wieder heim zu deiner Frau! Denn fürwahr: Sie wird schwanger werden und dir trotz eures hohen Alters doch noch ein Kind gebären!

Und wie es bei Abraham war, so soll es auch bei dir sein! Der Sohn deines Kindes wird der Stammvater einer noch herrlicheren geistlichen Nachkommenschaft sein, die gleichfalls aus Seinen zwölf Söhnen erwachsen wird und die selbst noch die fleischliche Nachkommenschaft Israels überstrahlen wird! Denn sie wird fürwahr zahllos sein und vollendet geheiligt werden! Ein neues, vor-erwähltes königliches Priestertum, das wahrhaft als Seine Erstlingsfrucht noch alle Welt zum ewigen Heil führen wird!“

Da erhob sich Joachim voll Freude in seinem Herzen, baute sein Zelt ab und begab sich hinauf nach Jerusalem. Auf dem Wege zur heiligen Stadt aber ging er zu seinen Hirten, denn er besaß auch viele Schaf- und Ziegenherden. Und er rief sie zu sich, und gebot ihnen: „Bringt mir zehn Lämmer, ohne Makel und Fehl, hinauf zum Tempel, dass wir sie dem HERRN als Dankopfer darbringen! Sie sollen Ihm gehören! Und bringt mir überdies zwölf zarte Kälber! Die sollen für die Priesterschaft und die Ältesten sein! Und bringt mir weitere hundert Ziegenböcke für das ganze Volk! Denn ich habe Grund, zu feiern! Denn der HERR hat sich meiner angenommen und mein Flehen zu Ihm doch noch erhört!“

Als Joachim aber in der Gefolgschaft einiger Hirten und mit der großen Herde an Opfertieren im Schafmarkt der Heiligen Stadt einzog, da eilten zwei Boten zu Anna, die im Gebet unter dem Lorbeerbaum verweilte, und riefen von Freude: „Herrin! Mach dich auf und komm! Denn dein Gemahl ist im Anmarsch mit einer großen Schar von Opfertieren!“

Da eilte Anna mit einigen aus ihrem Gesinde am Teich Bethesda vorbei hinunter zum Schafmarkt gegenüber der Burgfeste Antonia, wo sich Joachim mit der großen Viehherde einfand. Und sie warf sich ihm unter Tränen um den Hals und weinte: „Jetzt weiß ich fürwahr, dass Gott, der HERR, sich unser doch noch erbarmt und uns  von je her in restlos allem überreich gesegnet hat aus Seiner unerfindlichen Gnade! Denn siehe, die Witwe ist keine Witwe mehr, und ich Kinderlose soll doch noch schwanger werden und ein Kind haben!“

Und Joachim gab sich den ersten Tag nach seiner Rückkehr der Ruhe hin in seinem Hause. Denn er war schon alt und völlig ermattet von seinem Fasten in der Wüste. Und beide nahmen eine leichte Kost zu sich, um wieder zu Kräften zu kommen. Am nächsten Tag aber brachte er seine zahlreichen Gaben im Tempel Gottes dar.

Und Joachim betete auf dem Weg zum Haus des HERRN: „HERR, wenn ich wirklich Gnade in deinen Augen gefunden habe und in meinem hohen Alter noch so überreich mit einem Kind gesegnet werden darf, so bitte ich Dich: Lass es mich am Stirnband des Priesters erkennen!“ Denn jenes Band, das den Turban des Hohenpriesters hielt, war mit einer Platte aus Feingold versehen, auf der das Siegel „Heilig dem Herrn!“ eingraviert war. Und dieses Siegel begann zu erstrahlen wie ein Stern, wenn der Schein der Sonne darauf fiel.

Und Joachim brachte seine Gaben dar und gab Acht auf den Stirnreif des Hohenpriesters, als er zum Altar des HERRN hinzutrat. Und siehe, als der Hohepriester Ananel hervortrat und Joachim zu ihm hinauf blickte, da tat sich das Gewölk im Himmel auf und das Stirnband des Hohenpriesters erstrahlte wie die Sonne!

Da sank Joachim voll Dankbarkeit auf die Knie und seufzte: „Jetzt weiß ich, dass der HERR sich meiner wahrhaftig erbarmt hat und mir und meiner Frau in Seiner unendlichen Gnade alle unsere Sünden vergeben hat, und dass Er Sein Versprechen erfüllen wird und uns noch segnen wird mit einem Kind!“ Und so ging er voll Freude hinab in sein Haus, in Jubel darüber, dass der HERR ihm Barmherzigkeit erwiesen und in allem gerechtfertigt hatte.

Und Joachim lud all seine Freunde ein und feierte ein großes Fest. Und sie feierten und waren fröhlich bis in die Nacht. In der Nacht aber wohnte Joachim seiner Frau bei. Und siehe, bald zeigte sich´s, dass sie schwanger war mit einem Kind. Und das ganze Haus-Gesinde freute sich mit Joachim und Anna. Denn sie sagten sich: „Nun kehrt wieder Freude und Jubel ein in diesem Haus!“

(I)

So gingen die Monate vorüber, bis die Zeit kam, da Anna gebären sollte. Und als sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte, fragte sie erschöpft ihre Hebamme: „Sage mir doch, was es ist! Ein Junge oder ein Mädchen?“ Die Amme aber sprach: „Es ist ein wunderschönes Mädlein, so hübsch, wie ich noch keines gesehen habe! Ein wahres kleines Engelchen!“

Und sie zeigte der Anna das Kind, wusch es und legte es ihr an die Seite. Da war Anna über die Maßen glückselig, als sie den kleinen Kopf ihres Babys an ihren Wangen spürte und den Duft des Frischgeborenen roch. Und als das Kind quengelte und nach Milch verlangte, da gab die Anna ihrem Kleinen überglücklich zum ersten Mal die Brust. Dann aber trat Joachim herzu mit Tränen in den Augen, nahm das Kind und drückte und herzte es. Und sie gaben dem Mädchen den Namen Maria.

Die kleine Maria aber entwickelte sich ungewöhnlich schnell, wuchs zusehends und wurde von Tag zu Tag immer gewandter; denn die Gnade Gottes ruhte auf jenem Mädchen von Mutterleibe an. Denn sie war von Ewigkeit her erkannt und erwählt worden, die Mutter des Herrn und Heilandes zu werden – des Höchsten selber nach seinem Werden im Fleisch: als die, welche der Ewig-Vater selbst von Ewigkeit her als Seine Mutter erkannt hat, in der zeitlos Seine ewigen, irdischen Ursprünge liegen.

Und als die Kleine sechs Monate alt geworden war, stellte ihre Mutter Anna sie auf ihre Beinchen, um zu sehen, ob es schon stehen könne. Und siehe: Da lief die kleine Maria schon sieben Schritte und kam in ihrer Mutter Schoß zurück. Da nahm Anna sie über die Maßen beglückt in die Arme und herzte ihr Mädchen und beteuerte: „So wahr der HERR lebt, ich will dich schon jetzt ganz dem HERRN weihen und dich auf Sein Heiligtum vorbereiten, dass du mit nichts Unreinem oder Gemeinem in Berührung kommst, sondern ganz geheiligt seist deinem HERRN.“

Und so richtete die Anna ihre Gemächer im Obergeschoss des Hauses für den dauernden Aufenthalt des Mädchens ein. Denn sie wollte nicht, dass es draußen in den schmutzigen Gassen mit anderen Kindern spielen sollte, weil Anna fürchtete, diese könnten unrein sein. Auch duldete sie es nicht, das irgend etwas Unreines oder Gemeines in die Räumlichkeiten gelangen durfte, in welchem sie ihr Kind abgeschottet von der Welt gleichsam gefangen hielt.

Jene Anna war nämlich von der irrigen Vorstellung der Pharisäer bestimmt, man könne sich durch die Berührung mit irgendetwas Unreinem selbst verunreinigen und seine eigene Heiligkeit einbüßen. So lebte sie nach den Lehren der Rabbiner, gemäß ihrer Mischna, den Überlieferungen der Väter – in dem gesetzlichen, knechtischen Geist der Pharisäer, die immerfort anmahnten: „Berühre nicht! Betaste nicht!“

Dem Reinen nämlich ist alles rein! Denn er erkennt alles erfüllt von der Gegenwart des Herrn, so dass ihm alles heilig ist. Allein dem Unreinen ist alles unrein, weil er nichts von der ewigen Kraft und Gottheit vernimmt, die in allem ist, für wie fromm und heilig er sich selbst auch halten mag.

Denn wie der gott-ferne, rein religiöse Mensch, der noch nicht spirituell wiedergeboren ist, Gott noch nicht in sich selbst in seinem Herzen verspürt, so vernimmt er Ihn auch nicht von allen Seiten um sich und findet sich nicht überall im Reich Gottes, so wenig, wie das Reich Gottes schon in ihm ist.

Und so hielt jene Anna in überzogener Sorge für das ihr endlich doch noch geschenkte Kind das arme kleine Mädchen über-behütet von allem fern und gleichsam wie in einem goldenen Käfig gefangen, so dass die arme kleine Maria, als sie älter wurde, nicht zum Spielen mit den anderen Kindern das Haus verlassen durfte.

Immerhin nahm ihre Mutter Anna wenigstens eine Anzahl von essenischen unbefleckten Jungfrauen, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatten, in ihr Gesinde auf, die sich des Kindes annehmen und ihm Abwechslung bringen und es in der Liebe zum HERRN erziehen sollten. Und diese Kindermädchen sollten später die kleine Maria dann auch in den Tempel Gottes begleiten.

(J)

So vollendete die kleine Maria ihr erstes Lebensjahr. Da veranstaltete ihr überstolzer Vater in überschwänglicher Dankbarkeit für diesen Segen des HERRN ein großes Fest und lud die Priester und Schriftgelehrten und die Ältestenschaft, sowie das ganze Volk Israel ein. Und er ließ Maria zu den Priestern führen. Und Zacharias, welcher der Schwager der Anna war, nämlich der Mann ihrer Schwester Elisabeth, legte seine Hand auf das kleine Mädchen und segnete es: „Gott unserer Väter! Segne bitte dieses entzückende Kind und gib ihm einen Namen, hochgerühmt für ewige Zeiten unter allen Geschlechtern!“ Und alles Volk, das zum Fest geladen war und in dem großen Hof des Hauses des Joachim Platz gefunden hatte, sprach: „Ja, Amen! So möge es geschehen!“

Alsdann wurde das Mädchen vor den Hohenpriester Simon Ben Boethos gestellt; und auch der legte ihm die Hände auf und sprach einen Segen: „Gott in der Höhe! Blick herab auf dieses Kind und verleihe ihm auch den letzten, höchsten, endgültigen und vollkommenen Segen, der durch nichts mehr überboten werden kann!“ Und auch seinen Segensspruch bekräftigten alle Gäste mit einem lauten »Amen!«.

Daraufhin nahm Anna ihre kleine Maria und trug sie hinauf in ihre Gemächer und gab ihr die Brust. Und Anna stimmte Gott, dem HERRN, ein Loblied an: „Ich will singen dem HERRN, meinem Gott, mein Leben lang und Ihn preisen über Seine Barmherzigkeit und Liebe! Denn Er hat mich doch noch gnädig heimgesucht und nun jede Schimpf und Schande von mir genommen im Angesicht aller meiner Spötter und Feinde, die mich verhöhnt und verdammt hatten! Denn Er hat mir nach Seiner Gerechtigkeit und Gnade ein ganz einzigartiges, außergewöhnliches Kind geschenkt, das schon in seinem zarten Alter so überaus vielseitig und begabt ist, dass es alle, die es sehen, erfreut, und sie darüber dem HERRN benedeien!“

Und Anna wiegte ihr Kind beglückt in den Schlaf und lachte: „Wer wird´s den Söhnen Rubims melden, dass Anna zu stillen hat? Höret, höret, ihr zwölf Stämme Israels, dass Anna zu stillen hat!“

Jener Rubim nämlich lebte zu dieser Zeit schon lange nicht mehr, sondern allein nur noch seine Söhne. Denn er wurde vierzig Tage, nachdem er den Joachim geschmäht hatte, vom HERRN gerichtet, weil er als ein Mittler Gottes nicht in der Gesinnung des HERRN Barmherzigkeit geübt hatte, sondern vielmehr – noch dazu zu Unrecht – den Joachim gerichtet und verdammt hatte und sich damit an einem gerechten Kind Gottes vergriffen hatte. Deshalb viel der Zorn des HERRN ihn an, noch als Joachim in der Wüste war, so dass jener Rubim seinerzeit gestorben war.

Und Anna brachte das Kind zur Ruhe in seinem Bettchen und ging wieder hinaus zu den Gästen und wies das Gesinde an, die Speisen aufzutragen. Als aber das Festmahl beendet war, da gingen alle voll Freude und segneten das Haus des Joachim. Und der Hohepriester Simon Ben Boethos sprach zu ihm beim Gehen: „Fürwahr! Nun ist es aller Welt ersichtlich, dass das Haus Joachims in wirklich restlos allem überreich gesegnet ist!“

(K)

So wuchs das kleine Mädchen Maria unter der Obhut der keuschen Jungfrauen auf, die sich dem Kind widmeten und ihm die göttliche Liebe lehrten. Und als Maria zwei Jahre alt war, fragte Joachim seine Frau Anna: „Wann wollen wir unsere Kleine in den Tempel des Herrn hinauf bringen, um das Versprechen einzulösen, das wir Ihm gegeben haben? Denn wie sehr wir auch an ihr hängen, so sind wir doch an unser Gelübde gebunden. Nicht, dass wir den HERRN erzürnen und Er das Kind auf eine andere Weise von uns zu sich nimmt, die weder uns noch Ihm gefallen kann!“

Anna aber wollte Maria noch nicht aus ihren Händen geben und bat ihren Mann: „Lass uns doch noch das dritte Jahr abwarten, damit das Kind sich nicht bei zu früher Trennung in Heimweh nach uns verzehrt und nach Vater und Mutter Verlangen trägt! Denn ein betrübtes Kind würde gewiss dem HERRN keine Freude bereiten! Überdies weiß der Gebieter doch, dass wir unser Versprechen einzulösen gewillt sind! Sollte Er, der uns Geduld mit sich gelehrt hat, nicht ebenso Geduld mit uns haben?!“ Da willigte Joachim ein und sagte: „Dann wollen wir warten.“

So gaben die beiden sich und dem Kind noch ein weiteres Jahr Zeit. Als sich aber das dritte Lebensjahr der kleinen Maria dem Ende zuneigte, da nahm Joachim seine Anna bei der Hand und sprach zu ihr: „Du weißt, was wir dem HERRN schuldig sind, weil Er uns in unserem hohen Alter noch mit diesem kleinen Engel gesegnet hat! Es ist an der Zeit! Darum müssen wir sie nun langsam und behutsam von uns entwöhnen!“

Da seufzte Anna: „Ach, Joachim! Wie schwer wird mir bei dem Gedanken ums Herz, wo es sich so an diesen Lichtstrahl in unserem Alter gewöhnt hat! Doch weiß ich: Wir sind an unser Gelübde gebunden, dem HERRN unsere Dankbarkeit zu erzeigen, dass er uns mit diesem Kind beschenkt hat, und wir sind verpflichtet, Ihm nun zurück zu geben, was Er uns anvertraut hat.“

Da beschlossen die beiden, ihre kleine Maria künftig ganz den Jungfrauen in ihrem Hause zu überlassen und nur ab und an, in zunehmenden Abstand die Gemächer zu betreten, wo Maria mit den keuschen Mägden verweilte.

Und siehe, die Jungfrauen verstanden es, das Kind zu entwöhnen. Denn es lauschte gerne ihren Erzählungen von den großen Taten des HERRN und wurde von den Mägden auf vielfältigste Weise durch Unterhaltung und Spiel beschäftigt und abgelenkt.

(L)

Als nun Maria drei Jahre alt wurde, kam schließlich der Tag, an welchem Anna und Joachim ihr Mädchen ihrem Gelübde gemäß ganz aus ihrer Hand in die Hand des HERRN geben und in den Tempel bringen mussten.

Dort gab es nämlich inzwischen auch einen Bereich, in welchem keusche Jungfrauen leben konnten, die im Tempel verschiedene Dienste verrichteten. Denn nach drei Jahren der Vorbereitung hatte das größte Bauprojekt des Königs Herodes, den man später den Großen nannte, begonnen: Er nämlich wollte das Heiligtum Gottes in bislang so noch nie da-gewesener Pracht ausbauen und erweitern, um so Gunst beim Volk zu erlangen, da er als ein Idumäer in ihren Augen ein Heide und der erste nicht-jüdische Herrscher über Israel war.

(M)

Und als Arbeiter für den Ausbau des Tempels konnte jener Herodes die Essener gewinnen, welchen er gestattet hatte, sich im Südwesten Jerusalems auf dem Berg Zion anzusiedeln, nachdem ihre Siedlung in Qumran am Rande des Toten Meeres durch ein Erdbeben zerstört worden war.

Diese nämlich waren allesamt aus dem Priester-Geschlecht des Zadok, der einstmals als der Hohepriester Gottes an der Seite des großen Königs David dem HERRN diente. Doch sie waren freiwillig ins Exil in die Wüste gegangen, nachdem die Priesterschaft unter der Dynastie der Hasmonäer in ihren Augen völlig verweltlichte.

Die kriegerischen Makkabäer nämlich, die das Land von den Griechen befreit hatten, hatten unter ihrer Herrschaft das Königtum mit dem Hohenpriestertum verbunden, so dass fortan an der Spitze aller Tempel-Geistlichen königliche hasmonäische Hohepriester standen, an deren Händen von vielen Kriegen Blut klebte und die ihr Leben nicht allein dem Dienst am Heiligtum Gottes geweiht hatten, sondern als weltliche Regenten weit mehr mit irdischen Belangen zu schaffen hatten.

Dadurch war in den Augen der Essener der ganze Tempeldienst verunreinigt worden, weswegen sie sich abgesondert hatten, um in ihren Siedlungen ein völlig geheiligtes, vergeistigtes, pazifistisches Priestertum zu führen – in der Erwartung des Messias, der alles wieder in seiner ursprünglichen Ordnung herstellen würde.

So bildeten die frommen Essener als Zadokiden aus dem Geschlecht des einstigen Hohenpriesters Zadok also die einstmals ausgewanderte, abgesondert in Armut, Keuschheit und Entsagung lebende Opposition zu den Sadduzäern, die sich, wie ihr Name verrät, ebenso als Nachkommen des Zadok betrachteten, der auch Sadduk genannt wurde, wobei es die Sadduzäer aber mit den Hasmonäern hielten, durch die sie alle in gleicher Weise zu Macht und Reichtum gekommen waren und fortan den aristokratischen Priester-Adel in Israel bildeten. In den Augen der essenischen Priester jedoch waren all diese Sadduzäer vom wahren Glauben und Tempeldienst abgefallen, da sie sich mit den Hasmonäern verbündet hatten.

(N)

Dem Idumäer Herodes dem Großen, der zunächst durch die Hochzeit mit Mariamne, der Enkelin des hasmonäischen Hohenpriester-Königs Hyrkanos, dem Zweiten, in die Dynastie der Makkabäer hinein-geheiratet hatte, war es nun mit der Gunst Roms gelungen, die Macht der Hasmonäer vollends zu brechen und sämtliche Rivalen, die ihm, dem Herodes, als hasmonäische Hohepriester seine weltliche Herrschaft streitig machen wollten, auszuschalten:

Der erste der Makkabäer, welchen Herodes vernichtet hatte, war der Hasmonäer Antigonus Mattathias. Dieser war der Sohn des Aristobulos, des Zweiten, der mit seinem Bruder Johannes Hyrkanos, dem Zweiten, dem Großvater von Mariamne, der Frau des Herodes, um die Thronfolge gestritten hatte. Dieser Bruderzwist zwischen den Hasmonäern um die Herrschaft in Israel hatte den Vater des Herodes, den Antipater, der zuerst an der Seite des Hyrkanos gekämpft hatte, schließlich am Ende selbst an die Macht gebracht, da Antipater nach dem Tod jenes Gegenspielers, des Aristobulos, vom Cäsar zum Prokurator über Palästina an der Seite des Hohenpriesters Hyrkanos gesetzt worden war, welchem folglich fortan nur noch die geistliche Herrschaft über Israel blieb. Antipater wiederum hatte seinen Sohn Herodes zuerst als Statthalter von Galiläa eingesetzt.

Schließlich fiel aber Antigonus Mattathias, der Sohn jenes Aristobulos, der erfolglos mit seinem Bruder Hyrkanos um die hohepriesterliche Macht gestritten hatte und schließlich vergiftet worden war, mit den Parthern in Palästina ein, eroberte Jerusalem und verstümmelte seinen Onkel Hyrkanos, so dass dieser nicht mehr länger Hoherpriester bleiben konnte. Daraufhin ernannte Marcus Antonius den Herodes zum König von Jerusalem, Judäa, Galiläa und Samaria und ließ jenen Hasmonäer Antigonus Mattathias hinrichten, nachdem Herodes die Heilige Stadt zurück erobert hatte.

Jener Antigonus Mattathias aber, welchen Herodes als ersten Hasmonäer bezwang, war der Groß-Onkel von Mariamne, welche Herodes geheiratet hatte, um innerhalb der Hasmonäer-Dynastie aufzusteigen. Jener Antigonus Mattathias war der Sohn des Aristobulos, der gegen seinen Bruder Hyrkanos um die hohepriesterliche Herrschaft gestritten hatte. Und nachdem Hyrkanos aufgrund seiner Verstümmelung nicht länger Hoherpriester sein konnte, bestand dessen Tochter Alexandria, die Mutter von Mariamne, der Frau des Herodes, darauf, dass Herodes Mariamnes Bruder als Hohenpriester einsetzen sollte.

So musste Herodes der Große auf Dringen seiner Schwiegermutter Alexandria also zunächst den gerade einmal sechzehn-jährigen Hasmonäer Aristobulos, den Dritten, welcher der Bruder von Mariamne, der Frau des Herodes, war, zum Hohenpriester ernennen. Da dieser aber vom jüdischen Volk zum Passahfest gefeiert wurde, als wäre er auch Israels eigentlicher Herrscher und König, ließ Herodes den jungen Aristobulos auf einem Gastmahl in Jericho, zu welchem er ihn geladen hatte, von Knechten bei einer Balgerei im Schwimmbad ertränken, was er aber freilich aussehen ließ wie einen furchtbaren Unfall.

Später ließ Herodes der Große schließlich – sicherheitshalber – auch noch den verstümmelten einstigen Hohenpriester und Ethnarch Hyrkanos umbringen, an dessen Seite einstmals Antipater, des Herodes Vater, gekämpft hatte, wodurch dieser schließlich selber durch die Intervention Roms zur weltlichen Herrschaft über ganz Israel gekommen war. Und sogar seine eigene Frau Mariamne, sowie alle Söhne, die er von ihr hatte, ließ Herodes hinrichten! Auf diese Weise hatte Herodes der Große nicht nur die Macht der Makkabäer gebrochen, sondern vielmehr die ganze Hasmonäische Dynastie ausgelöscht.

So hatte Herodes fortan nur noch den aristokratischen Priester-Adel der Sadduzäer, welche die geistliche Obrigkeit des Volkes Israel bildeten und einst enge Verbündete der Hasmonäer waren, als oppositionelle Gegenmacht wider sich. Diese aber konnten immerhin schon einmal keinen Anspruch mehr auf die weltliche Herrschaft erheben, die nun er, Herodes, sicher inne hatte, da auch sie nicht dem ausgerotteten ruhmreichen Hasmonäer-Geschlecht angehörten, welches einstmals das Volk Israel von der Fremdherrschaft der Griechen, nämlich der Seleukiden, befreit hatte.

(O)

Damit beschränkte sich die Herrschaft der Sadduzäer auf die geistliche Führung des Volkes. Da aber auch diese Macht – gerade in Israel! – keineswegs zu unterschätzen war, versuchte Herodes natürlich alles, um auch diese zu unterwandern und zu schwächen. Dies war auch der Grund, warum Herodes der Große den Essenern angeboten hatte, sich in Jerusalem auf dem Berg Zion anzusiedeln, um dort in einem eigenen abgeschlossenen Viertel ihr vergeistigtes mönchisches Priester-Leben fortführen zu können, nachdem ihre Siedlung in Qumran am Toten Meer durch ein Erdbeben zerstört worden war.

Denn diese Essener gehörten schließlich auch der Priesterklasse an, welche allerdings den Tempeldienst in der Hand der Sadduzäer als völlig verweltlicht verurteilten, ihrerseits aber keinerlei weltliche Herrschaft anstrebten und damit für die gewonnene Macht des Herodes keinerlei Gefahr darstellten.

Im Volk aber wurden die Essener wegen ihrer tiefen Frömmigkeit hoch geschätzt, weswegen sie auch von allem als die »Frommen«, die »Chassidim« bezeichnet wurden, was auf griechisch die »Essener« heißt, so dass es Herodes auch wiederum überdies noch Gunst beim Volk einbrachte, wenn er diese Essener begünstigte, welche zu den von ihm verhassten Sadduzäern in Opposition standen.

Und wenngleich diese tief-gläubigen, ins Abseits gedrängten Essener in Herodes freilich auch nur einen machthungrigen durchtriebenen Heiden ausmachen konnten, der sich die Herrschaft über Israel durch hintertriebene Ränke unrechtmäßig erschlichen hatte, so war er für sie doch ein Hoffnungsträger, und sie betrachteten jenen idumäischen Herrscher als ein Werkzeug Gottes, da er nicht nur die verruchte weltliche Herrschaft des hasmonäischen Hohenpriestertums gebrochen hatte, sondern über allem nun auch sie selber in unmittelbarer Nähe zum Tempel ihr »Lager Gottes«, wie sie ihr Viertel nannten, errichten ließ.

Darum willigten die Essener auch ein, sich als Arbeitskräfte für den prachtvollen Ausbau des Tempels zur Verfügung zu stellen, zumal Herodes bei seinen Bauplänen zu einem Gut-Teil auch die Vorstellungen der Essener mit-berücksichtigte, wie das Heiligtum Gottes in rechter Weise ausgestaltet werden müsste, wie sie es in ihrer Tempelrolle dargelegt hatten.

Freilich erhofften sich die Essener, durch die Begünstigungen ihres Gönners Herodes mit der Zeit auch wieder mehr Einfluss auf die geistliche Führung des Volkes Israels zu gewinnen, welche seiner Zeit ganz in den Händen des Sanhedrins lag, der zum größten Teil aus Sadduzäern, aber auch aus Pharisäern bestand, da die Essener sich schließlich vormals, als die Hasmonäer die Macht ergriffen hatten, gänzlich in die Wüste abgesetzt und abgesondert hatten, wo sie ihre Siedlung am Toten Meer in Qumran errichtet hatten.

So konnte Herodes seiner Zeit also die Essener als geheiligte Bauarbeiter für Ausbau des Jerusalemer Tempels gewinnen, welche aufgrund ihrer priesterlichen Abkunft für solche Arbeiten auch würdig waren, wenngleich sich die Hoffnungen, welche die Essener selbst damit verbanden, doch nicht erfüllen sollten, da es die weltgewandten Sadduzäer verstanden, ihre Machtposition nach dem Untergang der Hasmonäer nicht nur zu halten, sondern sogar noch zu festigen – in der neuen geistlichen Dynastie, welche der damalige Schriftgelehrte Hannas, ein Mitglied des Hohen Rates, mit geschicktem taktischen Kalkül aufzubauen verstand, so dass jener das Hohepriestertum später über viele Jahre ganz an sein Haus und Geschlecht binden konnte.

(P)

Zu dieser Zeit also, als Anna und Joachim ihre kleine Tochter Maria als eine dem HERRN geweihte Jungfrau in den Tempel Gottes brachten, begannen gerade die Bauarbeiten der zölibatären Essener am Heiligtum des HERRN. Und diese wiederum mussten freilich mit Nahrung versorgt werden – in einer Weise, dass sie die Weihe-Stätte Gottes, an der sie bauten, nicht für ihre Mahlzeiten verlassen mussten, da sie sich sonst immer wieder erneut aufwändigen Reinigungsritualen hätten unterziehen müssen, wie sie die Essener besonders streng verfolgten.

Die Verrichtung ihrer Notdurft war ähnlich geregelt wie in ihrem essenischen Viertel: An der Ost-Fassade des Tempels waren im äußersten Norden hölzerne Erker, sogenannte »Bethsos«, also »Aborte«, angebracht worden, welche damit sowohl jenseits des Heiligtums Gottes, sowie auch der Heiligen Stadt lagen, da die massive Tempelmauer dort zugleich auch die Stadtmauer war. Jene hölzernen Vorbauten an der Ost-Fassade des Tempels konnten aber direkt vom heiligen Bezirk des Tempels betreten werden, nämlich über die Säulenhalle Salomos, welche den Vorhof der Heiden nach Osten hin abgrenzte. So konnten die Priester bei Not diese Örtlichkeiten aufsuchen, ohne den Tempel verlassen zu müssen. Ihre Notdurft aber fiel aus jenen hölzernen Erkern unter Holzfassaden ins Kidron-Tal, außerhalb des Tempels und der Stadt, hinab, wo sie mit Abwasser abgeleitet wurden, so dass das Heiligtum dadurch nicht verunreinigt wurde.

Dennoch verkniffen sich die meisten Essener die Nutzung dieser Bethsos soweit wie irgend möglich, da jene Aborte sich nicht in nordwestlicher Richtung gänzlich außerhalb der Stadt befanden, wie es nach ihren eigenen Vorschriften notwendig gewesen wäre. Darum auch nahmen die chassidischen Priester, die an der Erweiterung des Heiligtums arbeiteten, nur leichte Kost zu sich, und diese auch immer erst am späten Nachmittag, ein paar Stunden, bevor sie ihre Arbeiten am Tempel einstellten.

Für die Versorgung der essenischen Priester, die am Ausbau des Tempels arbeiteten, waren nun aber wiederum auch unbefleckte Jungfrauen in den äußersten Bereich des Tempels eingegliedert worden, da die Zubereitung von Mahlzeiten eindeutig Frauensache war. Für diese keuschen Frauen, die meist auch den Essenern angehörten, war ein abgesonderter Bereich von Kammern und Schlafgemächern im östlichen Eck der Süd-Seite des äußeren Tempel-Bereiches eingerichtet worden.

(Q)

An der Süd-Seite der mächtigen Tempelmauern um den Vorhof der Heiden, bei der Königlichen Halle, befanden sich nämlich schon von je her zahlreiche Schlafkammern für die Tempel-Diener, welche für die Priester die groberen, schweißtreibenderen Arbeiten verrichteten. Von diesen ihren Zellen an der Süd-Fassade aus konnten diese »Netinim«, die den Priestern zur Hilfe »Gegebenen«, direkt über die königlichen Hallen in den Tempel gehen, ohne den geweihten Bereich des Heiligtums Gottes verlassen zu müssen. Und eben dort waren in einem abgetrennten Bereich, zur Halle Salomos hin, nun – für die Zeit der Bauarbeiten am Tempel – auch einige Schlafzellen für die unbefleckten Jungfrauen eingerichtet worden, welche den essenischen Priestern dienten, indem sie ihnen Speisen zubereiteten und diese, ebenso wie Wasser und Säfte, zu ihnen brachten.

Dort, in ihrem abgesonderten Bereich, lebten nun innerhalb des Tempels also für die Zeit der Bauarbeiten am Heiligtum auch keusche Jungfrauen, welche im süd-östlichen Eck des äußeren Tempel-Bereiches, im Vorhof der Heiden, dort, wo die Säulenhalle Salomos im Osten mit der königlichen Säulenhalle im Süden zusammenlief, die Speisen für die essenischen Priester-Arbeiter am Tempel zubereiteten.

Der weiträumige Vorhof der Heiden glich nämlich mehr einem Marktplatz als einem heiligen Raum, da dort auch die Händler mit den Opfertieren, sowie die Geldwechsler allmorgentlich Einzug hielten und ihre Stände aufbauten – einer der vielen Makel, die unter den Sadduzäern aufgekommen waren und den Essenern als eine Entweihung der heiligen Stätte Gottes ungemein aufstießen.

Die sadduzäische Tempel-Aristokratie betrachtete nämlich den Vorhof der Heiden schon garnicht mehr als einen heiligen Bereich, der zum Tempel Gottes gehörte, da er in ihren Augen von den Füßen der unreinen Nicht-Juden entweiht war. Darum hatten sie auch einen eigenen Zugang direkt zum Vorhof der Priester und hebräischen Männer von der West-Seite des Tempels her, an das sich das Heiligtum unmittelbar anschloss, so dass sie sich nicht verunreinigen konnten, weil sie das Haus Gottes nicht über das unreine Pflaster des heidnischen Vorhofs betreten mussten.

So bereiteten dort, in der Süd-Ost-Ecke im Vorhof der Heiden nun auch die unbefleckten Jungfrauen die Mahlzeiten für die priesterlichen Bauarbeiter zu, aus den Zutaten, die ihnen von außerhalb zum Tempel geliefert wurden, so dass auch jene ganz dem HERRN geweihten zölibatär lebenden Frauen den heiligen Tempel nicht verlassen mussten – bis auf die Zeit ihrer Unreinheit wegen ihrer Monatsblutungen, die sie in einem abgelegenen Viertel am Rande der Heiligen Stadt Jerusalem verbrachten, das dort für die Netinim, die Priester-Gehilfen errichtet worden war, die dort wohnten, wenn sie nicht zum Tempeldienst eingeteilt waren.

Ansonsten lebten die unbefleckten Jungfrauen nunmehr aber ebenso, wie die Tempeldiener, für die Zeit der Erweiterungsarbeiten am Heiligtum innerhalb des Tempelbereichs. Und dort sollte auch die kleine Maria künftig mit den keuschen Jungfrauen, welche sie erzogen hatten, wohnen, um allezeit im Haus Gottes zu verbleiben.

So kam es also, dass Maria, die Mutter des Herrn, tatsächlich als eine besonders Geweihte Gottes durch die Fügungen des Höchsten im Heiligtum des HERRN aufwachsen konnte. Denn niemals zuvor noch jemals danach hatte es solches gegeben, dass auch unbefleckte Jungfrauen im heiligen Tempelbezirk wohnen konnten und einen Dienst am Haus des HERRN verrichteten.

(R)

Und Anna und Joachim vereinbarten mit den Priestern im Tempel, Maria noch ganz früh am Morgen, noch vor Tagesanbruch, ins Heiligtum Gottes zu bringen. Denn sie wollten, dass es noch dunkel ist, wenn ihre Kleine ins Haus des HERRN gebracht würde, damit das Kind nicht von den vielen neuen Eindrücken des Stadtlebens abgelenkt würde, da Maria noch niemals die Gemächer ihrer Mutter im Haus des Joachim verlassen hatte.

Und Joachim ließ sich einen Esel in den Hof seines Hauses bringen, auf welchem er sein kleines Mädchen in den Armen seiner Frau Anna hinauf zum Tempel führen wollte, dazu die unbefleckten Jungfrauen, welche mit Maria im Tempel aufgenommen werden sollten.

Auf dem Rücken des Maultiers aber befand sich eine zylinder-förmige Wabe aus Korbgeflecht, über die ein seidenes Tuch ausgebreitet war. Darin ließ sich die Anna auf dem Rücken des Lasttiers nieder und Joachim reichte ihr die kleine, noch schläfrige Maria, welche Anna vor sich auf den Rücken des Esels setze. Links und rechts des Esels aber liefen die keuschen Mägde.

Vor dem Maultier aber ließ Joachim einige Knechte mit Fackeln voran-ziehen, damit seine Kleine, wenn sie erwachte, durch den lodernden Schein ihrer Flammen in den Bann gezogen und abgelenkt würde. Denn er sagte sich: „Sie sollen mit ihren Fackeln vorangehen, um die Aufmerksamkeit unserer Kleinen auf sie zu lenken, damit sich das Kind nicht nach hinten umdreht und sein Herz nicht verführt wird weg vom Tempel des Herrn.“

Und sie hielten es so, bis sie zum Heiligtum des Herrn hinaufkamen und durch das Tadi-Tor in den Vorhof der Heiden kamen, wo sich auch bereits die Händler mit ihren Opfertieren und die Geldwechsler, sowie die Arbeiter am Haus des HERRN einzufinden begannen.

An ihnen allen führten sie das Maultier mit Anna und der kleinen Maria auf dem Schoß vorbei, am Soreg, einer brusthohen steinernen Balustrade, entlang, die den inneren Vorhof abgrenzte, welchen nur Juden betreten durften, bis sie zum Eingang in den Hof der Hebräer vor der Schönen Pforte gelangten, zu welcher vierzehn Stufen zum eigentlichen Heiligtum Gottes hinauf führten.

Dort öffnete Joachim den seidenen Vorhang über der Korb-Wabe, in welcher Anna mit der kleinen Maria vor sich saß; und Anna reichte dem Joachim das Kind und stieg aus dem Korb-Geflecht vom Rücken des Esels. Die Bediensteten mit ihren Fackeln aber waren bereits in den Vorhof der Juden getreten, um die Aufmerksamkeit der Kleinen auf das Haus des HERRN zu lenken.

Doch siehe, als Anna und Joachim, mit ihrer kleinen Maria an der Hand, zusammen mit den unbefleckten Jungfrauen, den Fackelträgern folgend, die Stufen zum Heiligtum Gottes hinauf gestiegen waren und durch die Schöne Pforte in den Vorhof der Frauen traten, da ging soeben die güldene Sonne auf und warf ihren glutroten Schein auf die vergoldete Zinne des Nikanor-Tores, welches, über weiteren hinauf-führenden halbkreis-runden Stufen, der Schönen Pforte gegenüber lag, und das Portal zum Vorhof der Männer bildete.

Da erstrahlte vom glutroten Schein der aufgehenden Sonne die vergoldete Zinne jenes mit je zwei Säulen zur Linken und Rechten gesäumten Nikanor-Tores in atemberaubender Pracht, als würde die Kuppe zum nächst-inneren Bereich des göttlichen Heiligtums selbst in himmlischen Glanz aufleuchten. Und die Zinne des Nikanor-Tores warf ihren warmen glutroten Schein zurück, hinein in den Vorhof der Frauen, auf die Säulengänge, welche ihren Vorhof umsäumten, so dass alles in ein unbeschreiblich feuriges Licht getaucht wurde. Denn der Vorhof der Frauen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem weiteren Säulengang für die Frauen auf einer Empore aufgestockt worden.

(S)

Und die kleine Maria kam aus dem Staunen nicht heraus. Denn da sie sich bislang nur in den Gemächern ihrer Mutter im Hause Joachims aufgehalten hatte, hatte sie in ihrem Leben noch niemals solche Herrlichkeit und Pracht gesehen. Und als Maria ergriffen zur golden aufleuchtenden Zinne des von Säulen eingefassten Nikanor-Tores hinauf blickte, da durchwallte sie mit einem Male sichtlich etwas wie ein zarter Windhauch, das ihr lockiges Haar davon bewegt wurde, gleichwie vom Hauch des Atems Gottes.

Und sie begann, wie von einer überirdischen Verzückung ergriffen, ganz nach ihrem kindlichen Gemüt zu singen und dem HERRN zu lobpreisen in einer selbst ersonnenen Sprache aus ihrem tiefsten Herzen, die zwar niemand verstand, aber alle berührte und jedem zu Herzen ging; und das zarte Mädchen begann, wie von Winden umspielt und bewegt, in einer Anmut zu tanzen, wie ein kleiner Engel, dass jeder beim Anblick ihres Tanzes meinte, er wäre in die Himmel versetzt. Maria nämlich war ausgesondert für den HERRN und erfüllt mit der heiligen Ruach des Höchsten schon von Mutterleibe an.

Und auch der Oberpriester Zacharias, der Stellvertreter des Hohenpriesters Simon Ben Boethos, der schon zugegen war, geriet in Verzückung beim Anblick des anmutigen Tanzes der Kleinen und weissagte: „Ja, Amen! Groß gemacht hat der Herr den Namen dieser Kleinen unter allen Geschlechtern! Durch sie wird der HERR in der Vollendung der Tage Sein Lösegeld den Kindern Israel offenbaren, durch welches Er alle Welt für sich auszulösen gedenkt!“

Und der Priester nahm Maria auf seine Arme und segnete sie und herzte und küsste sie. Und als er sie wieder auf der dritten Stufe des Nikanor-Tores absetzte, da begann die kleine Maria mit dem Blick hinauf zu den goldenen Zinnen und den in güldenes Morgenrot getauchten Himmel erneut zu tanzen. Und Gott, der HERR, legte so viel Anmut auf sie, dass alle, die bereits im Tempel waren, sie sofort lieb gewannen.

Solches aber geschah mitunter auch zum Zeichen der Gemeinde, dass, wer immer Gott aus tiefstem Herzen loben würde in huldigendem Preis und Tanz, in freudigem Erstrahlen engelhaft die empfundene und geschaute Anmut und Schönheit des HERRN widerspiegeln würde.

(T)

Und als Anna und Joachim sich von ihrer Tochter Maria verabschieden wollten, bekam es das kleine Mädchen überhaupt nicht richtig mit; denn sie kam aus dem Staunen über die Herrlichkeit Gottes, die sie umgab, und aus der Verzückung über Seine liebende Nähe, die sie verspürte, garnicht mehr heraus und verhielt sich so, als wäre sie in ihr eigentliches Heim und Zuhause gekommen.

Da gingen ihre Eltern, ohne sich recht von ihr verabschieden zu können, und ließen ihre Kleine im Haus des Herrn zurück – in der Obhut des Oberpriesters Zacharias und der unbefleckten Jungfrauen, die auch im Tempel weiterhin für die kleine Maria sorgen sollten.

Und beide, Joachim wie Anna, waren von einem Wechselbad von Gefühlen erfasst: Zum einen waren sie zutiefst erleichtert und überglücklich darüber, dass Maria von der Gegenwart des HERRN in solch einer Tiefe ergriffen worden war, dass sie ihre Eltern darüber ganz vergaß und sich nicht zu ihnen zurück gewandt und nach ihnen geschrien hatte, als sie ihre Kleine verließen; zugleich erfasste sie gerade aber auch deswegen Wehmut und Trennungsschmerz, da sie erkannten, dass der HERR sich ihrer wahrhaftig angenommen und nunmehr an ihre Stelle getreten war, so dass ihr Mädchen fortan allein nur noch dem HERRN gehörte und zugetan war und seine Eltern darüber gänzlich zu vergessen schien.

Maria aber war im Tempel des Herrn ein Blickfang für alle, die in das Heiligtum Gottes kamen. Und sie glich einer Taube und benötigte so wenig Speise wie ein kleiner Spatz. Denn sie empfing Nahrung aus der Hand von Engeln. Und Gott, der HERR, legte unvergleichliche Anmut und Schönheit auf sie, wenn sie, Seiner Liebe huldigend, für Ihn tanzte, dass das ganze Haus Israel die kleine Maria lieb gewann. Denn niemals zuvor hatte es solches im Tempel des HERRN gegeben.

(U)

Die Trennung der Eltern von Maria erwies sich aber als überhaupt nicht so schlimm, wie es ihnen zunächst vorkam. Denn Joachim und Anna hatten ihr Haus schließlich am äußersten Nordhang Jerusalems gegenüber der Burgfeste Antonia von Herodes dem Großen, oberhalb des Teiches Bethesda, in unmittelbarer Nähe zum Tempel des HERRN, so dass sie ihr Mädchen jederzeit im Heiligtum Gottes besuchen konnten.

Überdies war zu dieser Zeit Zacharias, der Sohn Barachjas, aus dem Priestergeschlecht Aarons, aus der Nachkommenschaft des Abia, Vorsteher über die essenischen Priester in Israel, die am Tempel des HERRN arbeiteten. Dessen Frau Elisabeth aber war die Schwester der Anna. Denn sie beide waren Töchter Aarons der Zeugung nach, sowie Töchter Davids der Erbfolge nach.

Denn einer ihrer Vor-Väter aus dem Geschlecht Davids war kinderlos geblieben, sein Halb-Bruder mütterlicherseits, der diesem nach der Bestimmung der Levirats-Ehe darum einen Sohn erwecken musste, aber war aus dem Geschlecht Aarons. Dessen Vater nämlich hatte – wie einst Aaron – eine Frau aus dem Geschlecht Davids geehelicht. Diese war allerdings die Witwe eines Daviden. Schließlich war der erste davidische Sohn jener davidischen Witwe, der Halb-Bruder jenes zweiten aaronitischen Sohnes, aber kinderlos gestorben, so dass letzterer dem ersteren als sein Halb-Bruder mütterlicherseits nach dem Gesetz der Schwager-Ehe einen Nachkommen zeugen musste. Dieser so durch eine Levirats-Ehe gezeugte Sohn war damit der Zeugung nach aus dem priesterlichen Geschlecht des Aaron, der Erbfolge nach jedoch aus dem königlichen Geschlecht Davids, da er nach dem Gesetz als der Sohn des verstorbenen davidischen Halb-Bruders galt, welchem von seinem aaronitischen Halb-Bruder der Same erweckt worden war. Und damit waren auch dessen sämtliche Nachkommen einerseits Daviden dem Anschein nach, jedoch Aaroniten der Wirklichkeit nach.

So war es darum auch mit Anna und mit ihrer Schwester Elisabeth: Sie hatten einen Stammbaum der Zeugung nach, der auf Aaron zurück ging, aber ebenso einen Stammbaum der Erbfolge nach, der – in Folge jener Schwager-Ehe in ihrer Ahnenliste – auf David zurück ging. So konnten sie sowohl mit Nachkommen des David als auch mit Nachfahren des Aarons vermählt werden. Anna aber wurde einst mit Joachim verheiratet, der aus dem königlichen Haus und Geschlecht des David war; ihre Schwester Elisabeth dagegen mit Zacharias, der aus dem hohenpriesterlichen Geschlecht des Aaron war.

Und so kam es, dass Zacharias, der Onkel Marias, Oberpriester im Heiligtum Gottes war, als Marias Eltern ihr Mädchen in den Tempel Gottes gaben, so dass Anna ihre Kleine hierbei doch immerhin in die Obhut ihres Schwagers Zacharias geben konnte.

(V)

Denn nachdem Herodes der Große den letzten hasmonäischen Hohenpriester, den gerade einmal siebzehn-jährigen Aristobulos den Dritten, hatte umbringen lassen, weil dieser zum Passahfest vom Volk gefeiert wurde wie ein König, und Herodes durch diesen letzten Makkabäer-Priester, welcher sein Schwager war, seine Herrschaft gefährdet sah, da hatte der Herrscher Israels nach dem Ananel und dem Jesus Ben Phabai schließlich den Simon Ben Boethos aus den Reihen der Sadduzäer zum Hohenpriester erwählt.

Und dieser wiederum hatte den Zacharias aus dem hohenpriesterlichen Geschlecht des Aaron aus der Abteilung Abia zum Oberpriester ernannt, nämlich zu seinem Stellvertreter, sowie zum Vorsteher über die vierundzwanzig Priester-Abteilungen und insbesondere zum Ober-Aufseher über die mit dem Ausbau des Tempels betrauten Essener, so dass er, Simon Boethos, sich selbst ganz den höheren hohenpriesterlichen Amtsgeschäften widmen konnte.

Er selbst nämlich hatte als der Hohepriester den Vorsitz über den siebzig-köpfigen Hohen Rat, welcher die geistliche Gerichtsbarkeit in Israel ausübte und somit als eine gewisse Gegenmacht zu Herodes in Glaubensfragen und in der Überwachung der Einhaltung der Gesetze des Mose über das ganze jüdische Volk herrschte.

So kam es zu dieser Zeit also, dass jener Hohepriester Simon Bar Boethos den Zacharias gleichsam zu seiner rechten Hand erhoben hatte – wie einstmals der Pharao den Joseph. Denn der Hohepriester hatte dem Zacharias die Ober-Aufsicht über alle Priester im Tempel übertragen, um die Erweiterungsarbeiten am Haus des HERRN mit dem beständigen Opferdienst der Priester im Tempel zu koordinieren. Damit unterstanden zu dieser Zeit sämtliche Priester innerhalb des Heiligtums Gottes unmittelbar dem Oberpriester Zacharias, dieser aber wiederum dem Hohenpriester, den er vertrat und dem er verantwortlich war. Damit aber hatte Zacharias gleichsam das höchste Amt innerhalb des Tempels inne und wurde darum von vielen auch geachtet, als wäre er der Hohepriester selbst.

Deswegen hatte es anfangs auch ein großes Murren von dem Hohen Ratsherrn Hannas her unter den Sadduzäern gegeben, dass der Hohepriester Simon Ben Boethos den Zacharias zu seiner rechten Hand erhoben hatte, da Zacharias, wiewohl er ein Mitglied des Sanhedrins war, nicht ihrer Parteiung angehörte und nicht aus ihren Reihen war – und überdies, wenn auch unausgesprochen, die Schmach der Kinderlosigkeit auf ihm lag, da seine Frau Elisabeth ebenso Schwierigkeiten hatte, schwanger zu werden, wie ihre Schwester Anna, welche die Frau Joachims war.

Simon Ben Boethos aber erklärte den Seinigen: „Gerade deshalb ist er für dieses Amt genau der Richtige, eben darum, weil er kein Sadduzäer ist! Denn ihr alle wisst, wie die Essener zu uns stehen, dass sie feindselig gegen uns eingestellt sind. Auf Zacharias aber werden sie hören, zumal sie ihn regelrecht als einen der Ihren betrachten, da er kinderlos ist und darum, wie sie wohl meinen, wie viele von ihnen in einer zölibatären Ehe lebt. Denn er, wie auch seine Frau Elisabeth wandeln nach Ansicht jener frommen Chassidim untadelig in allen Geboten und Satzungen des HERRN. Darum werden sie seinen Weisungen folgen, er aber ist mir unterstellt. So können wir uns jene Essener gerade über diesen Zacharias gefügig halten.

Überdies ist er schon hochbetagt, so dass wenig Gefahr besteht, wenn er sich in seinem Amt als Oberpriester allzu sehr bewähren und Ruhm erlangen sollte und am Ende noch hohes Ansehen bei Herodes erwirbt. Denn selbst, wenn dieser einstmals von Herodes noch selbst zum Hohenpriester ernannt werden sollte, würde er dieses höchste Amt aufgrund seines hohen Alters nicht lange innehaben. Und da Zacharias kinderlos geblieben ist, besteht auch keine Gefahr, dass die Priester-Herrschaft einstmals an sein Haus übergeht, da dies mit ihm ausstirbt.

Zudem ist es doch gerade die Demut des Zacharias, die ihn bei den Essenern so beliebt macht. So erweckt er nicht gerade den Eindruck, auf die höchste priesterliche Würde aus zu sein! Darum scheint mir jener Zacharias in jeder Hinsicht wahrlich der Geeignetste für dieses Aufseher-Amt über die Essener zu sein. So soll dieser sich doch mit diesen Chassidim abmühen, während wir unsere Macht ausbauen und unseren Einfluss auf das Volk festigen.“

(W)

Simon Ben Boethos war nämlich schon selbst ausschließlich durch die Gunst des Herodes zum Hohenpriester erwählt worden, obwohl er, wenngleich er auch dem Geschlecht der Sadduzäer angehörte, ein vergleichsweise absolut mittelloser, unbedeutender Priester ohne jedweden Einfluss war.

Und dass er trotz alledem von dem idumäischen Herrscher gewürdigt wurde, den geistlichen Thron über Israel besteigen zu dürfen, hatte jener Boethos allein dem Umstand zu verdanken, dass Herodes der Große seine Enkelin Mariamne geehelicht hatte, nachdem er seine hasmonäische Frau, die ebenfalls den Namen Mariamne trug, wegen angeblichen Ehebruch hatte hinrichten lassen, um sich ihrer zu entledigen – hatte er letztere doch nur geheiratet, um in das hohepriesterliche Königsgeschlecht der Hasmonäer hineinzukommen, woraufhin er jedoch zielstrebig begonnen hatte, sämtliche Makkabäer aus dem Weg zu räumen, dass nur ja keiner von ihnen ihm seine Herrschaft je wieder streitig machen konnte, da Herodes schließlich idumäischer Abkunft war – und damit in den Augen aller frommer Juden als ein Heide ein absolut unwürdiger Regent für das auserwählte Volk Gottes war.

So verdankte Simon Ben Boethos sein hohepriesterliches Amt allein der Gunst des Herodes. Boethos war sich aber durchaus bewusst, dass er seine hohe Stellung ebenso schnell wieder verlieren konnte, wie er sie durch den edomitischen Regenten über Israel erlangt hatte. Wie schnell war doch schon der Bruder von des Herodes ersten Frau mit Namen Mariamne auf höchst beängstigende Weise seiner ihm von Herodes verliehenen geistlichen Vormachtstellung wieder beraubt worden, kaum, dass er Hoherpriester geworden war! Im Schwimmbad auf einem Gast-Gelage des Herodes in Jericho ertränkt! Angeblich ein Unfall …

Und die Enkelin des Boethos, welche nunmehr die Frau des Herodes war, konnte auch ebenso schnell wieder fallen gelassen werden, wie sie von diesem Heiden in sein Bett geholt worden war! – hatte jener Idumäer doch schon seine allererste Frau Doris verstoßen, um die Hasmonäerin Mariamne heiraten zu können, wie er schließlich letztere umbringen ließ, da er selbst in ihr, obwohl sie seine Gemahlin war, aufgrund ihrer edlen Abkunft aus der jüdischen Makkabäer-Dynastie eine Bedrohung für seinen Macht-Erhalt sah!

Simon Ben Boethos musste sich also sehr wohl in Acht nehmen, am Ende nicht noch selbst ebenso bei dem höchst unberechenbaren Gewaltherrscher Israels von der Gunst Roms in Ungnade zu fallen! Denn er war sich durchaus bewusst, dass er nicht etwa aufgrund irgendwelcher besonderer Vorzüge oder aber wegen irgendwelcher bestehender persönlicher Sympathien von Herodes gewürdigt worden war, das geistliche Oberhaupt Israels zu werden, sondern einzig und allein aus eiskaltem taktischen Kalkül:

Denn einerseits hatte Herodes die Enkelin des Boethos, als er diese ehelichen wollte, durch die Ernennung ihres Großvaters zum Hohenpriester in eine Stellung gehoben, die einer königlichen Vermählung würdig war, zugleich aber hatte der Fremd-Beherrscher Israels damit die wohlhabenden, führenden Sadduzäer entschieden geschwächt, da er sie bei der Erwählung des neuen geistlichen Zepter-Führers übergangen hatte und an ihrer Stelle einen völlig unbedeutenden Priester, der mit ihnen noch nie großartig etwas zu schaffen hatte, in jenes höchste Amt erhoben hatte, wobei er durch seine Vermählung mit der Enkelin des von ihm ernannten Hohenpriesters zugleich auch selbst in ein Verwandtschaftsverhältnis zum geistlichen Oberhaupt Israels trat.

So konnte sich Simon Ben Boethos nicht einmal sicher sein, ob er zum Hohenpriester erwählt worden war, damit seine Tochter einer Vermählung mit Herodes würdig wurde, oder aber, ob jener Idumäer diese allein nur darum geheiratet hatte, um sich so selbst wieder zum Anverwandten einer von ihm selbst eingesetzten, ihm passenden hohenpriesterlichen Familie zu machen – mit einem geistlichen Schatten-Regenten und reinem Strohmann, der absolut nichts zu sagen hatte, da er ganz von der höchst wankelmütigen Gunst seines vermeintlichen Gönners abhängig war!

Simon Ben Boethos musste vor Herodes darum wohl mehr auf der Hut sein als jeder andere – nicht, OBWOHL, sondern, WEIL er Hoherpriester geworden war! Folglich war es klar, dass Boethos sich gehütet hatte, einen führenden Sadduzäer als seinen Stellvertreter zu ernennen. So kam ihm jener Zacharias, mit dem sich zudem die Essener ausgesprochen gut verstanden, nur allzu recht.

(X)

Aber es kam von dem HERRN, dass Zacharias zum Führer über die Tempelpriester gesetzt worden war; denn er leitete die ganze Priesterschaft in der Salbung des HERRN, und der Dienst am Heiligtum des HERRN gewann unter ihm viel von seiner ursprünglichen Würde zurück. Denn Zacharias verstand es nicht allein, zwischen den Essenern und seinem Vorgesetzten geschickt zu vermitteln, sondern überdies, auch den Hohenpriester Simon Ben Boethos als Ratgeber recht zu leiten.

Erst als Hannas durch den syrischen Statthalter Cyrenius zum Hohenpriester eingesetzt wurde und durch hinterlistige Ränke eine mächtige Hohepriester-Dynastie zu gründen verstand, verlor jenes höchste Amt wieder seine Weihe. Denn Hannas war nicht vom Geist Gottes, sondern von Machtgier und Herrschsucht bestimmt und nichts als ein Heuchler.

So hielt jener Hannas später seine Machtposition selbst auch dann noch, nachdem er nach neun Jahren als Hoherpriester von Valerius Gratus, dem Prokurator Judäas, abgesetzt worden war – nämlich über seine fünf Söhne und seinen Schwiegersohn Kaiphas, welche er ins hohepriesterliche Amt zu hieven verstand. Sein Schwiegersohn Kaiphas war es schließlich auch, der zusammen mit Hannas später den Herrn Jesus Christus wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilte.

So befand sich Zacharias aufgrund seines wichtigen Amtes in der Leitung der Bauarbeiten am Tempel fortan fast ständig im Heiligtum des HERRN. Seine Frau Elisabeth aber, aus den Töchtern Aarons, war die Schwester der Anna, der Frau des Joachim und der Mutter Marias. Beide aber, Zacharias und Elisabeth, waren gerecht vor Gott und wandelten untadelig in allen Geboten und Satzungen des HERRN.

(Y)

Mit drei Jahren war also das Mädchen Maria von seinen Eltern Anna und Joachim als eine Geweihte des HERRN in den Tempel Gottes gegeben worden und war fortan unter der Obhut des Oberpriesters Zacharias, dem Schwager der Anna. Und die unbefleckten Jungfrauen, die sich schon im Haus des Joachim um das kleine Mädchen gekümmert hatten, betreuten Maria auch weiterhin im Heiligtum Gottes, des HERRN.

Und der HERR legte Anmut auf das Mädchen, wenn es zu Seinen Ehren im Vorhof der Frauen tanzte, so dass sie alles Volk lieb gewann und alle bekundeten: „Fürwahr! Ein reines Engelchen Gottes!“ Denn die kleine Maria war sichtlich erfüllt mit der heiligen Ruach der Gottheit, so dass sie einen unvergleichlichen Liebreiz ausstrahlte, dass allein über den Anblick ihres kindlichen Tanzes vieler Herzen angerührt und ihr Glaube gestärkt wurde, da sich jeder sagte: „Eine Gottheit, die so etwas Wunderbares von solcher Anmut und Schönheit hervorbringt, kann einfach auch selbst nur wunderbar und von unendlicher Anmut und Güte sein!“

Doch bald bereitete den Jungfrauen, die für die kleine Maria zuständig waren, etwas übergroße Sorge, dass sie deshalb mit dem Kind den Priester-Vorsteher Zacharias aufsuchten. Maria nämlich hörte irgendwann auf, vernünftig zu essen und nahm nur noch so viel Nahrung zu sich, wie ein kleiner Spatz. Darum unterrichteten die unbefleckten Jungfrauen den Priester-Aufseher Zacharias darüber, dass das Kind schon seit Tagen nicht mehr ausreichend aß. Und Zacharias kniete sich zu dem Mädchen hinunter und begutachtete die kleine Maria, konnte aber nicht feststellen, dass dem Kind irgendetwas fehlte, obwohl es schon mehrere Tage, wie die keuschen Jungfrauen beteuerten, kaum mehr etwas zu sich genommen hatte.

Da fragte der alte Zacharias die Kleine: „Sag, mir, mein kleiner Engel: Warum isst du so wenig?! Du musst doch essen, damit du groß und stark wirst!“ Die kleine Maria aber nickte lächelnd verständig mit dem Kopf: „Mach ich doch!“ Da fragte Zacharias irritiert: „Aber deine Ammen sagen mir, du isst nicht recht! Fehlt dir irgendetwas?“ Die Kleine aber schüttelte den Kopf und antwortete: „Alles gut! Essen bringen mir doch schon die Engel!“ Diese Beteuerung des Mädchens schrieben aber freilich alle der Einbildungskraft der Kleinen zu.

Zacharias aber wies die keuschen Kindermädchen an, Marias Mutter von all dem nichts zu sagen, dass ihre Tochter so schlecht aß. Denn Marias Mutter Anna kam ohnehin schon jeden Tag in den Tempel, um ihre Kleine zu besuchen und sich sorgenvoll nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Und Zacharias fürchtete, Anna würde in Sorge um das Kind am Ende noch ihr Gelübde brechen und ihre Tochter wieder aus dem Tempel zu sich nehmen.

(Z)

Denn der stellvertretende Hohepriester Zacharias wusste schließlich von Anna und Joachim, die mit ihm eng verwandt waren, dass ihnen dieses Kind in ihrem hohen Alter nach langem vergeblichen Harren und Flehen am Ende doch noch durch ein Wunder des HERRN geschenkt worden war, was schließlich auch erwarten ließ, dass auf jenem Kind eine besondere Berufung lag, wenngleich Zacharias sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, welche. Denn schließlich handelte es sich doch nur um ein Mädchen!

Sollte jene Maria vielleicht einmal eine Prophetin des HERRN werden? So etwas hatte es schließlich auch schon gegeben. Oder wofür sonst könnte jenes Mädchen ersehen worden sein? Wofür nur war dieses Kind besonders auserwählt worden? In jedem Fall musste es eine besondere Bewandtnis damit haben, dass der Anna und dem Joachim jenes Kind in ihrem hohen Alter doch noch geschenkt worden war – wie einstmals der Isaak, der Vater Israels, dem Abraham und der Sarah, oder der Junge Samuel der Hanna, die ihren Knaben – ebenso wie nun Anna ihre kleine Maria – einstmals ganz dem HERRN geweiht hatte, so dass jener Samuel der erste aller Propheten wurde, der auch den ersten König Israels salbte.

Darum war sich Zacharias sicher: Jene Maria, die schon als kleines Kind zum Lobpreis Gottes in einer Ausstrahlung tanzte, wie einstmals Mirijam, die Schwester des Mose, beim Auszug aus Ägypten: jene Maria musste etwas ganz Besonders sein und eine ganz besondere Berufung haben – zu was auch immer!

Die Weissagung, die Zacharias bei Marias Eingang ins Heiligtum ausgesprochen hatte, verstand er damals nämlich selber noch nicht; denn es war als ein prophetisches Wort ohne persönliches Verstehen ausgesprochen worden, allein aus der unmittelbaren Eingebung der Ruach Gottes.

Doch so viel jedenfalls verstand Zacharias zu diesem Zeitpunkt schon, dass jene Kleine eine Erwählte Gottes war und eine besondere Segnung auf ihrem Leben lag. Deswegen musste das Kind auch unbedingt im Heiligtum Gottes bleiben!

Denn der Hohepriester war sich gewiss: Sonst hätte es der HERR niemals so gefügt, dass nach so vielen Jahrhunderten einmal wieder ein Kind dem Tempel des HERRN anvertraut worden war, wie es nicht mehr vorkam, seit einstmals jene Hanna, weil sie doch noch mit einem Kind gesegnet worden war, ihren Samuel noch als kleinen Jungen, kaum entwöhnt, ins Haus Gottes gegeben hatte.

Überdies aber hatte es solches noch niemals gegeben, dass ein Mädchen in unmittelbarer Nähe zum Heiligtum Gottes innerhalb des Tempelbereichs aufwachsen konnte, wie es allein die besonderen Umstände des Tempel-Ausbaus überhaupt erst möglich gemacht hatten.

Darum beschwor Zacharias die unbefleckten Jungfrauen, der Mutter Marias aber auch ja nichts davon zu sagen, dass das Mädchen schon seit einigen Tagen so schlecht aß, solange dem Kind trotz allem nichts zu fehlen schien; und er vermahnte die Ammen: „Nicht, dass die Mutter ihr Gelübde noch bricht und den HERRN erzürnt, wenn sie das Kind wieder zu sich nimmt! Denn eifersüchtig wacht der HERR über ein jedes Herz, das Er sich zu eigen gemacht hat! Und dass dieses Mädchen von der göttlichen Liebe in ganz einzigartiger Weise ergriffen ist, erkennt jeder, der es tanzen sieht und singen hört. So hütet euch, der Anna irgend etwas zu sagen von all dem, dass die Kleine kaum noch etwas isst! Nicht, dass ihr ein Übel herauf-beschwört durch die Mitteilung von etwas, wovon wir nicht wissen, ob es überhaupt ein Übel ist!“

(AA)

Rahel aber, eine der keuschen Jungfrauen, die besonders an der kleinen Maria hing, wühlte all dies ungemein auf, so dass sie sehr unruhig schlief und lange vor Tagesanbruch, noch in der Nacht, erwachte. Da stellte jene Rahel zu ihrem Entsetzen fest, dass die kleine Maria nicht mehr bei ihnen in der Kammer war und, dass das Lager des Mädchens, das ihnen anvertraut war, aufgedeckt und verlassen war. Da eilte die Rahel hinaus in die Halle Salomos und rief nach dem Mädchen. Doch Maria war nirgends zu finden: nicht im Vorhof der Heiden, der durch den klaren Sternenhimmel gut ausgeleuchtet war, und ebenso nicht hinter der Balustrade im Vorhof der Hebräer. Auch antwortete das Kind nicht auf ihren Ruf.

Als jene Rahel aber die Stufen zur Schönen Pforte hinaufstieg: Siehe, da sah sie ein sonderbares Licht aus dem Vorhof der Frauen hervor-strahlen, zu welcher jenes Tor führte. Und als sie näher kam und in das dreifache Portal trat, da sah sie das Mädchen auf den halbrunden Stufen des Nikanor-Tores sitzen. Doch siehe: die Kleine umstrahlte ein himmlisches Licht von leuchtenden Strahlen-Bändern, die das Kind umspielten und den ganzen Vorhof der Frauen in einem tanzenden Schein regenbogener Farben tauchten.

Da getraute sich die Rahel nicht, zu Maria in den Frauen-Hof zu treten, denn sie erkannte, dass es die Herrlichkeit des HERRN war, die dort das Kind umfing. So verharrte die Rahel in der Schönen Pforte mit gebannten Blick auf jene bewegte lebendig wirkende Licht-Wolke, die das Kind umspielte. Denn noch nie hatte jenes Kindermädchen etwas derart Sonderbares und über alle Maßen Wunderbares gesehen.

Dann aber entschwand mit einem Mal der ganze bunte, tanzende Schein bei einem Wimpernschlag in einem stechenden Licht-Punkt und die kleine Maria, die auf den Stufen zum Nikanor-Tor saß, stand auf und wandte sich zum Portal, in welchem die Rahel verharrt hatte.

Da rief die Rahel zu dem Kind: „Maria! Mein kleiner Engel! Was war das nur?! Was ist da geschehen?! Und warum bist du überhaupt hier und nicht in deinem Bettchen?!“ Die kleine Maria aber antwortete ihr: „Der Abba hat mich wieder gerufen! – hierher zu den Engeln: zum Essen!“

Als Rahel dies am nächsten Morgen dem obersten Priester Zacharias und den anderen Priestern berichtete, wollte es zunächst niemand glauben. Aber als in der folgenden Nacht der Priester-Vorsteher Zacharias die Sache erkundete: Siehe, da sah er die selbe Erscheinung. Und da Maria auch künftig kaum mehr etwas zu sich nahm, ging von ihr die Rede um, sie würde von Engeln aus den Himmeln gespeist.

Der Oberpriester Zacharias aber verbot es allen streng, über diese Sache zu reden und vor allem, ihr nachzugehen, und beschwor alle Tempel-Priester und Gehilfen: „Dass es mir ja niemand wagt, dem Kind des nachts zu folgen! Nicht, dass wir den HERRN erzürnen! Denn, was sich dort abspielt, ist heilig und geht niemanden etwas an, als den HERRN und dies von ihm auserwählte Kind allein!“ Nur dem Joachim vertraute es Zacharias später an, was sich Nacht für Nacht an Sonderbarem um jenes auserkorene Kind im Tempel abspielte.

(AB)

Weil Anna und Joachim Gott, dem HERRN, aber ihr erstes Töchterchen geweiht hatten, das sie über alles liebten, wurden sie noch im selben Jahr, als sie ihre kleine Maria in den Tempel Gottes gegeben hatten, mit einem weiteren Töchterchen beschenkt. Und sie nannten sie Salome, welche später die Mutter von Johannes und Jakobus werden sollte, der Söhne des Zebedäus, welche Jesus zu Aposteln in Seine Nachfolge berufen hatte.

Und es war gut, dass den beiden, der Anna und dem Joachim, ein weiteres Kindlein geschenkt wurde, dass sie in ihrem Alter erfreute. So konnten sie nämlich von Maria lassen, die ganz dem HERRN geweiht worden war. Denn jene Maria war ausersehen worden unter allen Töchtern Adams, einstmals den HERRN selber auszutragen, der selbst in die Niedrigkeit dieser Welt kommen wollte in dem, was einstmals als Sein „Sohn“ verehrt werden sollte. Und dafür sollte jene Maria vollends dem HERRN anvertraut und geheiligt werden, um ihren Sohn, welcher aus der Gottheit selbst in ihrem Schoß erweckt werden sollte, in vollendeter Heiligkeit austragen, gebären und aufziehen zu können.

Nachdem nun aber den Eltern der kleinen Maria, der Anna und dem Joachim, trotz ihres hohen Alters über allem noch ein weiteres Mädchen geschenkt worden war, konnten sie von Maria lassen, dass sie ihre Erstgeborene immer seltener im Tempel zusammen mit deren kleinen Schwester Salome besuchten und so Maria gänzlich unabgelenkt in ihrer besonderen Weihe aufwachsen konnte.

(AC)

Und Maria lernte von ihren Kinder-Ammen im Tempel viele Psalmen zum Lobpreis des HERRN, so dass sie zusammen mit den Chor der Leviten singen konnte, wenn diese im Vorhof der Frauen in regelmäßigen Abständen auf den halbrunden Stufen zum Nikanor-Tor Aufstellung nahmen, um den Höchsten zu benedeien.

Auch war es Maria dadurch möglich, vielen Pilgern im Tempel im Beten von Psalmen zu unterstützen, da sie diese besser kannte als jeder, der das Heiligtum Gottes aufsuchte. Und sie lernte auch von den tiefgläubigen unbefleckten Jungfrauen, sich voll Einfühlsamkeit und Verständnis die Nöte und Sorgen aller Gebrochenen und Bekümmerten anzuhören und ihnen göttlichen Trost zu spenden, indem sie ihnen die Hände auflegte und für sie Fürbitte tat und sie im Namen des Höchsten segnete.

So wurde die kleine Maria schon in ihrer Jugend auf den hohen Dienst vorbereitet, den sie einstmals nach ihrer Aufnahme in die Himmel zur Rechten Christi einnehmen sollte – in einfühlsamen Hören und betendem Weitergeben all der Nöte der Kinder Gottes, die ihnen ihr einstiger Sohn als Seine Geschwister anvertrauen wollte – durch ihre Fürbitte als eine geist-gesalbte, von der Ruach Christi bewegte Vorbeterin aller vollendeten Gerechten in den Himmeln, die alle mit ihren himmlischen Fürbitten ihre Geschwister auf Erden, die noch durch manche Prüfungen und Läuterungen hindurch müssen, umschirmen wie ein lichte Wolke des HERRN.