(A)

Es begab sich aber an einem Tag, als Jesus sich mit Seinen Jüngern in der Heiligen Stadt auf einem Markt befand, dass sich ein Mann aus dem Volk an den Rabbi mit einer Bitte wendete: „Meister, mein Vater ist kürzlich verstorben und mein Bruder will unser Erbe nicht mit mir teilen, weil er der Erstgeborene ist, obwohl unser Vater wollte, dass wir seine Werkstatt einmal gemeinsam weiter führen! Nach allem, was nun aber vorgefallen ist, ist das unmöglich geworden. Darum will ich, dass er mich auszahlt.

Aber er weigert sich, weil er dann die Werkstatt verkaufen müsste und wirft mir vor, ich würde es darauf anlegen, alles zunichte zu machen, was unser Vater aufgebaut hat. Doch wir haben uns derart überworfen, dass mir ein weiteres Zusammen-Arbeiten und -Leben mit meinem Bruder einfach völlig unmöglich geworden ist.

Nachdem er sich aber strickt weigert, mich auszuzahlen, bitte ich Dich: Erkläre doch bitte meinem Bruder, dass er dazu verpflichtet ist und dass mir das Recht auf mein Erbteil auch vor Gott, dem Höchsten Israels, zusteht.

Du bist schließlich als ein großer Prophet geachtet! Und wenn DU ihm das klar-machst und ihm deutlich vor Augen führst, dass Gott, der HERR, auf MEINER Seite ist, dann wird er sich unterstehen, nicht einzulenken, um sich nicht auch noch an dem Allmächtigen selbst zu versündigen, weil er nicht auf dessen Mahner hört. Denn andernfalls sähe ich mich gezwungen, auf Gedeih und Verderb mein Erbteil bei einem Richter einzuklagen.“

(B)

Schon während der junge Mann dies alles dem Meister darlegte, war Jesus anzusehen, dass Er innerlich zu grollen begann und immer ungehaltener wurde. Und das hatte jenen Erbstreiter ermuntert, sein Anlegen dem Rabbi so ausführlich zu schildern und in aller Breite darzulegen, da er der festen Überzeugung war, der Herr wäre über seinen Bruder so erbost.

Dann aber bekam jener Streithammel von Jesus eine knallharte Abfuhr. Denn der wirschte den verstrittenen Bruder an: „Menschenskind! Wer hat Mich denn zum Richter oder Erbschlichter über euch eingesetzt?! Bin Ich denn ein Richter in belanglosen Erb-Streitigkeiten über die Toten?“

Und glaube auch ja nicht, dass du mit deinem Ansinnen Meinen Vater in den Himmeln behelligen könntest, dass Er dich in deiner Vorgehensweise segnet! Du nämlich, der du nur völlig selbst-bezogen nach vermeintlicher »Gerechtigkeit« schreist und verlangst, bist in Wirklichkeit nur auf Vergeltung, aber nicht auf Versöhnung aus!

Aber wahrlich, Ich sage dir: Keiner, der im Streit mit irgendeinem Bruder liegt, wird bei Gott wegen seinem Anliegen erhört, selbst wenn er sich tausendmal damit im Recht befände! Denn wer um nichtiger, weltlicher Dinge willen in Zwistigkeiten mit irgendeinem anderen gerät, und sich zu Zorn, Zank und Zwietracht hinreißen lässt, erweist sich damit ganz gewiss nicht als ein Kind Gottes!

Aber in deinem Fall ist es noch weit schlimmer! Es ist eine wahre Schande, dass du dich mit deinem eigenen Bruder schon überwirfst, ehe euer beider Vater nur unter der Erde liegt und bestattet worden ist! Meinst du etwa, DU würdest damit im Sinne eures Vaters handeln und ihm Freude bereiten?!

Warum lässt du dir nicht lieber Unrecht tun, als es zu einem derart schlimmen Zerwürfnis kommen zu lassen?! Wäre es nicht weit besser und ehrenvoller, sich selbst dann lieber um des lieben Friedens willen übervorteilen zu lassen?! Kinder Gottes wollt ihr sein?! Nachkommen Abrahams?! – und überwerft euch wegen solcher Nichtigkeiten und Belanglosigkeiten wie Geld und Besitz, und das auch noch vor den Augen der Heiden?!

(C)

Wahrlich, Ich sage dir: Mit dem, was du hier durchziehen willst, erweist du dich weder als ein Kind Gottes, noch als ein Kind Abrahams! Denn Abraham hätte so etwas nie getan!

Oder weißt du nicht, wie unser aller Stammvater sich verhalten hatte, als es zu Spannungen zwischen ihm und seinem Neffen Lot kam, der ihn ins verheißene Land begleitet hatte, weil das Gebiet, in das sie kamen, die Herden ihrer beiden Stämme nicht gemeinsam tragen konnte?

Da sprach Abraham zu Lot, der deshalb in Zorn gegen ihn geriet: »Lass es doch bitte nicht zu einem Zerwürfnis zwischen dir und mir kommen! Denn wir sind doch Brüder!«, obwohl Lot doch weit jünger und nur der Sohn seines Bruders Haran war!

Und er stellte es seinem Neffen frei: »Wähle dir die Region aus, die du für dich und deine Herden haben willst: Das Land steht dir offen! Willst du die westliche Gegend zum Jordan hin, dann werde ich in die östliche Gegend zum Meer hin ausweichen; willst du aber die östliche Gegend, dann werde ich die westliche nehmen.«

Und als sein Neffe Lot sich vermessen die weit fruchtbarere Region im tiefer gelegenen östlichen Jordan-Tal erbot, die ein wahrer wasserreicher »Garten Eden« war, da willigte Abraham ein und begnügte sich mit der weit kargeren westlichen Gegend im Hochland von Kanaan, obwohl es doch eigentlich ihm, dem Abraham, welcher der Bruder von Lots Vater war, als dem Älteren und weit Erhabeneren zugestanden hätte, die Wahl zu treffen – zumal überdies doch dem Abraham ALLEIN alles Land von Gott zum Erbteil verheißen worden war!

Aber weil unser Glaubensvater fest darauf vertraute, dass sein himmlischer Patron und Schirmherr ihm alles zufallen lassen würde zu seiner Zeit, konnte er sich bescheiden und Verzicht üben, dass er sich nicht zu Zwistigkeiten hinreißen ließ um das, was doch allein IHM von Gott her zustand.

Und der HERR segnete ihn dafür und bestätigte ihm daraufhin erneut: »Hebe deine Augen auf von der Stätte, in die du ausgewichen bist, und blicke überall hin um dich: nach Norden und nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst und das sich überall hin um dich herum erstreckt in die Länge, wie in die Breite, will Ich dir und all deinen Nachfahren geben für alle Zeit; und Ich will deine Kinder und Kindeskinder mehren wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch alle Staubkörner auf der ganzen Welt zählen? Allein ein solcher nämlich könnte auch alle deine Nachkommen erfassen.«

Siehe, und so bestätigte der Allmächtige dem Abraham, dass Er ihm alles zu gegebener Stunde erstreiten würde, weil Abraham im Vertrauen auf den Höchsten sich um des Friedens willen nicht dazu hinreißen ließ, selbst für sich und sein Recht zu streiten.

Lot dagegen, der das Beste an sich reißen wollte, brachte sich darüber am Ende selbst in allergrößte Not, dass er bald über dem, was seine Augen mit ansehen mussten, furchtbarste Seelenqualen erleiden musste und später überdies auch noch all sein Hab und Gut, wie auch seine geliebte Frau verlor und in einer Höhle hausen musste.

(D)

Darum werden allein die Sanftmütigen und Friedfertigen das Land besitzen, und es werden allein denen die göttlichen Segnungen zuteil werden, die im Vertrauen auf die Zusagen des Himmels auf eben diese ihnen zugesicherten Zuwendungen verzichten können, wenn jemand sie ihnen streitig machen will.

Denn wer wirklich fest darauf vertraut, dass ihm alles mit granitener Gewissheit zukommen wird zu seiner Zeit, der kann wahrlich alles loslassen! – wie geschrieben steht: »Durch Ruhe-Halten werdet ihr alles empfangen! Und durch vertrauensvolles Stille-Halten wird euch alles zur rechten Zeit in die Hände fallen!«

Wer aber ohne Rücksicht auf Verluste mit brutaler Gewalt alles an sich reißen will, von dem er meint, dass es ihm zustünde, der wird darüber alles verlieren!“

Und als der Meister dies dem Erbstreiter dargelegt hatte, wendete Er sich ihm wieder milder zu und beschwor ihn sehnsuchtsvoll: „Darum: Nimm Abstand von dem, was du dir vorgenommen hast in deinem aufwallenden Zorn über das schmerzliche Unrecht, das dir nach deinem Empfinden momentan angetan wird, und lass es sein, in dieser Art und Weise um dein Recht zu streiten!

Wende dich vielmehr mit deinem Anliegen an den allerhöchsten Richter, dass du es Ihm allein vorlegst in ausharrendem Gebet und es dann auch Ihm allein überlässt, wann und wie und auf welche Weise Er dir Recht verschaffen will!

Dann wird Er sich deiner annehmen und dich weit mehr gewinnen lassen, als das, was du um des Friedens willen nunmehr zuerst aufgeben musst. Und Er wird dich überwinden lassen in wahrhaft allem im Guten!“

(E)

Dies war allerdings nicht das erste Mal, dass sich ein junger Mann mit einem derartigen Anliegen an den Meister gewendet hatte.

Als Ihn zuvor schon einmal ein Erbe gebeten hatte, sich für sein Recht einzusetzen, hatte Jesus diesen brüsk abgewiesen mit den Worten: „Geh doch zu deiner Mutter, der Witwe eures Vaters, die noch vor euch streitsüchtigen Söhnen Erbin ist! Soll sie euch doch von dem Toten geben! Was habe Ich damit zu schaffen? Ich teile aus, was Leben in sich hat!“

Und der Rabbi sprach damals zu Seinen Schülern: „Diejenigen, die auf die Erbschaft von Toten aus sind, sind selbst tot und erben nur Totes. Diejenigen aber, die wahrhaft lebendig sind, erben das Leben und darüber hinaus auch das, was gegenwärtig noch tot ist.

Die Toten erben nichts! Denn wie sollten Tote etwas erben? Allein wenn jemand von den Toten ersteht, wird er das Leben erben und dann nicht mehr sterben und den Tod nicht mehr sehen, selbst wenn er dem Fleisch nach stirbt; denn ein solcher hat die Erbschaft des Lebendigen zum ewigen Leben für alle angetreten.

Darum streiten nur Tote um Totes; die Lebenden aber ringen für sich und alle um das wahre Leben!“