(A)

Nach allen Seiten umblickend und sich vergewissernd, dass er auch von niemanden beobachtet wurde, begab sich Barabbas an das Becken der Waschungen, wo die Juden sich vor dem Betreten des Tempels zu reinigen pflegten.

Dort befand sich Jesus, glücklicher Weise allein, der in Hockstellung an sich das Reinigungsritual vollzog, indem Er das Wasser mit der einen Hand über die andere bis zum Ellbogen laufen ließ, um von Seinem Arm in bestimmten vorgeschriebenen Handbewegungen allen Schmutz zu lösen, nachdem Er in ähnlicher Weise bereits Seine Füße gewaschen hatte.

„Meister!“, flüsterte Barabbas, „ich wollte Dir nur sagen: Falls Du beabsichtigst, zum Passah-Fest die Herrschaft zu ergreifen: Ein Heer von Zeloten steht für Dich bereit; und sie alle sind willens, für Dich, wie auch für mich ihr Leben zu lassen. Denn es kommt gewiss nicht von ungefähr, sondern ist ganz bestimmt ein Akt der Vorsehung, dass wir Namensbrüder sind.

Ich heiße nämlich ebenfalls »Jesus«. Und da mein Vater unbekannt ist, werde ich »Bar Abba« genannt, also »Barabbas« – ein Name, der auch auf Dich passen würde, da Du schließlich in ähnlicher Weise vaterlos bist, Dich aber als den Sohn des himmlischen Abbas betrachtest.

Sind wir damit nicht gleichsam die zwei Ölbäume und Leuchter, die vor dem HERRN stehen und die berufen sind, gleichwie Mose und Aaron der gottlosen Welt zu einer Geisel zu werden, und das Volk Israel in die Freiheit zu führen?!“

Barabbas neigte sich noch näher zu Jesus, der Seine Waschungen fortsetzte: „Dein Jünger Judas Ischarioth, den Du in den Stand eines Apostels gehoben hast, steht nämlich schon seit geraumer Zeit mit uns in Verbindung und unterstützt uns auch mit finanziellen Mitteln. Und wie Du sicher weißt, stehen auch alle Deine Jünger hinter ihm und betrachten ihn als ihren Wortführer.

Er hat dieses Treffen arrangiert. Er meint nämlich, dass Du schon an Deiner Sendung zu zweifeln beginnst, weil Du überhaupt nicht weißt, wie viele streitbare Männer in Wahrheit hinter Dir stehen und nur auf Deinen Schlachtruf warten.

Aber glaube Mir: Es ist nicht nur die relativ kleine Truppe, die hinter mir steht, die aber bereit ist, für Dich in den Tod zu gehen; auch im Volk gibt es viele, die hoffen, Du würdest nun bald die Macht ergreifen, und die nichts lieber täten, als für Dich darum zu streiten!

Denk doch nur einmal daran, wie sie Dich gefeiert haben, als Du auf einem Esel in Jerusalem eingeritten bist, was Du bestimmt nicht von ungefähr getan hast, sondern womit Du Dich allen frommen Israeliten als der Messias zu erkennen geben wolltest. Und tatsächlich ist vielen durchaus bewusst: Wenn Du nicht der gott-gesandte Erlöser bist, der uns in die Freiheit führt: wer sonst sollte dazu jemals im Stande sein?! Denn Gott ist doch ganz offensichtlich mit Dir, wie es sich an Deinen zahllosen Machterweisen aller Welt deutlich zeigt!

Darum bitte ich Dich: Zögere und zaudere nicht länger! Ein Heer todesmutiger Streiter Gottes steht hinter Dir! Jetzt ist die angenehme Stunde! Jetzt bietet sich Dir die Gelegenheit, endlich die Macht zu ergreifen!“

(B)

Jesus sah Barabbas an und sprach zu ihm: „Ja, du hast recht, was dich und Mich betrifft: Ich bin der Sohn des Abbas, wie auch du ein Sohn des Vaters bist, auch wenn du noch nicht begreifst, was dies bedeutet und was dies dir, wenn du dermaleinst aufwachst und verstehst, noch eröffnen und erschließen wird – wie aller Welt, die in der Kindschaft Gottes steht.

Aber höre: Was du und dein geheimer Bundesgenosse, Mein Judas, was ihr im Sinn habt, steht nicht im Willen Gottes, sondern beruht auf einer gänzlichen Verkennung des göttlichen Wesens, das nichts als hingebungs-willige, aufopferungs-bereite selbstlose Liebe voll Nachsicht und Güte auch gegenüber den erbittertsten Feinden und Gottes-Widersachern ist.

Was ihr ausführen wollt, fördert nicht das Reich der Liebe, das die Gottheit in Mir aufrichten will, sondern hindert es vielmehr und steht ihm entgegen!“

Und Jesus sah Seinen Namens-Vetter eindringlich an: „Erkenne doch, Barabbas! Die Welt wird sich nicht ändern, solange sich die Herzen nicht ändern! Und mit brachialer Gewalt ist dieser Wandel nicht herbei-zu-führen!

Es gibt nur einen Weg: den der alles erduldenden, alles ertragenden und aushaltenden und auf sich nehmenden unerbitterlichen göttlichen Liebe! Sie allein vermag, allen Widerstand in den hasserfüllten Herzen nicht nur zu brechen, sondern gänzlich auszulöschen und vollauf in sich zu verschlingen!

Ich freue Mich, dass du bereit bist, dein Leben für Mich zu geben. Und doch wird sich, was du ersehnst, wie Ich es auch bringen will und noch werde, auf eine andere, weit erhabenere Weise erfüllen, als wie du und dein Freund und Genosse Judas es euch ersinnen könnt und ausmalt. Denn vielmehr will Ich Mein Leben für euch und alle geben!

Darum bitte Ich dich: Lass ab von dem, was du vorhast und schon planst! Lass es und halte an dich! Halt vielmehr still und harre aus und beobachte einfach, was bald geschehen wird und was Ich für alle Welt tun will und werde!

Und wenn es dich auch zunächst entsetzen wird, so bleib in abwartender Verharrung bis ans Ende! Dann wird sich´s dir alles noch erschließen und du wirst es begreifen und verstehen; und es wird dein Herz froh und frei machen und dich einem gänzlich neuen Leben zuführen.

Wenn du dies tätest, glaube Mir: du würdest dir viel Kummer und Harm ersparen, dass du nicht erst gänzlich zerbrochen und zerschlagen werden musst in furchtbarer Kerkerhaft unter der Peitsche von Folterknechten auf Galeeren und in unterirdischen Minen, um zum wahren Leben zu finden!“

Barabbas meinte, er hörte nicht recht! Hatte Judas ihm nicht versichert, ihm würde es bestimmt gelingen, den Meister zu überzeugen und all dessen Bedenken zu zerschlagen, dass es Ihm bestimmt wäre, doch noch die Herrschaft zu ergreifen?!

Barabbas startete einen letzten Versuch: „Rabbi! So höre doch!“ „Nein!“, fiel Jesus ihm ins Wort: „Nein, Barabbas! Höre doch endlich DU! Höre auf mit dem, was du im Sinn hast, und höre lieber auf das, was Ich im Sinn habe! Das könnte dich jetzt schon erlösen und erretten, ebenso, wie Meinen Judas! Kann es für euch denn wirklich nur durch die Hölle in den Himmel gehen?!“

„Meister!“, beschwor Barabbas noch einmal Jesus, erneut um sich blickend, ob er vielleicht inzwischen schon erspäht worden war.

Jesus aber wendete sich wieder Seinen Waschungen zu. „Nein, Barabbas!“, erwiderte der Rabbi ihm: „Es ist von uns beiden alles gesagt worden!

Ich will und suche deine Hilfe und Unterstützung so wenig, wie du die Meine suchst! Und du darfst auch von Mir keine Hilfe und Unterstützung erwarten in dem, was du vorhast! Denn wenn du Mir nicht folgen willst in blindem Vertrauen, bist du ebenso, wie die, die du in Gottes Namen abschlachten zu müssen meinst, noch wider Mich und Meinen Vater!“

(C)

Barabbas konnte und wollte es einfach nicht glauben, was er da hörte!

Gewiss! Judas hatte schon seit geraumer Zeit angedeutet, dass sein Meister sich über Seine eigentliche Sendung nicht mehr im Klaren war, seit sich in zunehmendem Maße viele ursprüngliche Verehrer und Nachfolger wieder von Ihm abwandten, und dass der Rabbi bisweilen schon der fixen wahnhaften Idee nachhing, Er hätte sich als ein Sühneopferlamm für all die hinschlachten zu lassen, die abzuschlachten Er doch eigentlich selbst in diese Welt entsandt worden ist!

Barabbas wusste also in gewisser Weise, was ihn erwartete und was dem Meister auszureden war. Aber was ihm nun an entschiedener, zäher Entschlossenheit von Seiten dieses Jesus entgegen-trat, übertraf selbst seine allerschlimmsten Befürchtungen!

Judas lag offensichtlich völlig falsch mit seiner Erwartung, dass sein Herr sich bestimmt noch umstimmen lassen würde, wenn Er erst einmal realisieren würde, dass Seine Lage garnicht so aussichtslos war, wie Er meinte, und wenn Er erkennen würde, wie viele entschlossen hinter Ihm standen und auch bereit waren, für Ihn in den Tod zu gehen, und dass sein Meister sich dann bestimmt wieder darauf besinnen würde, dass der Höchste Ihm durchaus den Weg zur Macht-Ergreifung bereitet hatte, um das Reich Gottes aufzurichten, was doch schließlich anders garnicht sein konnte, wenn Er denn der Messias war!

Und obwohl Barabbas nach dieser seiner ersten persönlichen Begegnung mit dem Meister, auf den auch sie, die Zeloten unter seiner Führung, all ihre Hoffnung gesetzt hatten, völlig vor den Kopf gestoßen war und nicht mehr verstehen konnte, wie Judas sich nicht von der Überzeugung abbringen ließ, dass allein mit diesem seinen Herrn das Reich Gottes aufzurichten wäre, so sah auch Barabbas in diesem Moment keine andere Alternative, als gegen alle vernichtende Ernüchterung doch noch auf ein Wunder zu hoffen, dass dieser wunder-tätige Rabbi, auf den ganz Israel seine Hoffnung setzte, nach einer Weile wohl doch noch zur Besinnung käme, dass es Seine Bestimmung war, die Macht zu ergreifen, wenn Er erst wirklich realisieren würde, wie viele todeswütige Streiter tatsächlich doch hinter Ihm schon bereit standen.

Also verabschiedete Barabbas sich mit den Worten: „Nun denn: wie auch immer! Du sollst wissen: wir stehen alle bereit und hinter Dir! Vielleicht besinnst Du Dich ja noch darauf, dass das niemals der Wille Gottes sein kann, dass Du Dich für alle abschlachten lassen sollst – vielleicht sogar gerade darum, weil Du wohl tatsächlich sogar dazu bereit wärst! Aber lass Dir von mir sagen: Gerade darum hat der Höchste Dich dazu auserkoren, die Herrschaft zu ergreifen. Denn keiner wird so gerecht regieren, wie Du!

Und darum hat der HERR Dir im Verborgen auch bereits ganze Heerscharen zubereitet, die nur noch auf Deinen Schlachtruf warten. Und es bedarf nur eines Winkes von Dir, dann werden wir unverzüglich zuschlagen!

Wenn Du Dich also das nächste Mal mit der scheinheiligen Obrigkeit Israels anlegen wirst, die insgeheim mit den gottlosen Unterdrückern Israels unter einer Decke steckt, dann werden wir dies als Deinen Aufruf verstehen, dass es nun doch noch beginnen soll: und dann werden wir uns mit Dir gegen sie alle erheben!“

Jesus aber erwiderte ruhig, ohne noch Blickkontakt zu Barabbas aufzunehmen: „Du magst hören, was immer du willst! Es wird niemals Mein Schlachtruf sein, sondern vielmehr die Stimme dessen, der wider Mich steht!“

(D)

Barabbas kehrte total aufgebracht und erbost zu seinen Anhängern zurück, unter denen sich auch Judas Ischarioth befand, und fuhr diesen voll unbändiger Wut an: „Was hast du uns da nur für falsche Hoffnungen gemacht?! Dein Meister will doch überhaupt nicht die Macht ergreifen! Er will sich vielmehr tatsächlich von denen abschlachten lassen, die Er allesamt, wenn Er denn wirklich der Messias wäre, mit dem Hauch Seines Mundes nieder-strecken müsste!

Aber wie sollte DIESER DA, so wie Er denkt und ist, unserer Sache in irgendeiner Weise dienlich sein?! Er hat unmissverständlich erklärt, dass wir, wenn wir zu den Waffen greifen, nicht mit Ihm rechnen dürfen, da wir Seiner Meinung nach dann ebenso Feinde Gottes wären, wie die, welche wir im Namen Gottes überwinden wollen! Was ist von so jemanden zu erwarten?!

Ja, Judas, du magst uns treu über viele Jahre von dem Geld deines Meisters unterstützt haben, wofür wir dir auch bleibend dankbar sind! Aber für diesen da unseren Kopf hinzuhalten?! Das wäre ja Wahnsinn! Wie könnte dieser der Messias sein, wo Er überhaupt keine Ahnung hat, was dann Seine eigentliche, klare Sendung wäre!“

Judas aber – überrascht über seine eigene Gelassenheit und felsenfeste Zuversicht, die ihn mit einem Mal erfasste und bestärkte – beschwichtigte den Barabbas: „Barabbas! BARABBAS! Hör mir zu! Wenn es jemals einen Messias für uns geben sollte, dann muss es dieser sein! Wenn du gesehen hättest, was ich schon alles gesehen habe: die Vollmacht, die dieser hat! Es gibt keinen Zweifel! Er MUSS der Messias sein! Er, oder sonst keiner! – auch wenn Er sich gegenwärtig Seiner eigentlichen Sendung noch immer nicht bewusst sein mag!

Aber der Höchste hat sich doch ganz bestimmt etwas dabei gedacht, dass Er mich an die Seite Seines Sohnes gestellt hat, um ihn zu bestürmen und ihm ins Gewissen zu reden, dass Er von Seiner Weichherzigkeit ablassen muss, um das Reich Gottes aufzurichten und die Sache Gottes noch wohl hinaus zu führen! Und ebenso hat der Allmächtige doch auch uns zusammen-geführt, dass wir für diese große Stunde im Geheimen bereits alle Vorbereitungen treffen konnten!

Gib dem Meister noch etwas Zeit! Bislang meinte der Herr schließlich, alle hätten sich von Ihm abgewandt und Er stünde nun ganz alleine da, so dass Er sich in diese wahnhafte Vorstellung hinein-gesteigert hat, es müsste dann wohl der Wille Gottes sein, dass Er sich, wie alle Gottes-Propheten vor Ihm, für die Sache Gottes opfern lassen müsse, statt als der letzte gott-gesandte Prophet und Messias des Höchsten diese endlich mit Gewalt durchzusetzen und das Blut aller Propheten, die Ihm vorausgegangen sind, zu rächen.

Ich bin felsenfest davon überzeugt! Er wird noch zur Besinnung kommen und aufwachen und schließlich noch letzte Klarheit darüber erlangen, was Seine wahre, eigentliche Sendung ist! Es kann doch überhaupt nicht anders sein!

Und ich bin felsenfest überzeugt: Wenn es nochmals zu einer Eskalation kommt, dass der Zorn des HERRN Ihn erfasst: Wenn ihr dann die Gunst der Stunde ergreift und euch für ihn in die Schlacht werft und Er sich dann schließlich entscheiden muss, ob Er für die einschreiten will, die ihr Leben für Ihn aufs Spiel setzen, oder aber für Seine Widersacher, die Ihm sein Leben nehmen wollen: spätestens dann wird Ihn mit Sicherheit die Klarheit des HERRN umstrahlen und Er wird dann wissen, was Er zu tun und für wen Er sich hinzugeben hat!

Darum vertraut mir: Denn auch ich bin nicht ohne Geist und Salbung und ganz bestimmt nicht von ungefähr zu Seinem Apostel, wie auch zu eurem Mittelsmann berufen worden! Denn seht: Auch Seine eigene Jüngerschaft steht geschlossen hinter mir und teilt meine Ansichten und ist mir unendlich dankbar, dass ich sie immer wieder hartnäckig und unerbittlich vor unserem Herrn vorbringe, um Ihn noch umzustimmen!

Wenn es also zum nächsten Konflikt meines Meisters mit den gottlosen Hütern Israels kommt, die nur sich selbst weiden, statt die Herde des HERRN auf Seine Auen zu führen, dann ist die Stunde für die Befreiungsschlacht Israels gekommen!“